„Ich will den rebellischen Geist der Stadt wieder aufleben lassen“Interview mit Iván Arias, Initiator und Booker des WOS Festival in Santiago de Compostela
8.9.2023 • Kultur – Interview: Thaddeus HerrmannWie stellt man eigentlich ein Festival auf die Beine, bei dem es nicht um die Maximierung der Teilnehmenden geht, sondern vielmehr um musikalische Diversität und die Stärkung der lokalen Szene? Wie lässt sich das umsetzen, auch und gerade vor der historischen Kulisse einer Stadt wie dem spanischen Santiago de Compostela? Iván Arias verantwortet dort seit 2014 das WOS Festival. Thaddeus Herrmann hat mit ihm im Vorfeld der 2023er-Edition gesprochen. Über Konzertantes und den Dancefloor, historische Orte, Gentrifizierung, Förderung und das, was ein gutes Festival ausmacht.
Vom 14. bis zum 17. September 2023 findet im spanischen Santiago de Compostela das WOS Festival x SON Estrella Galicia statt. Wir haben bereits berichtet. Mittlerweile ist auch das komplette Line-up veröffentlicht. Doch fast noch wichtiger als der Überblick über die Künstler:innen, die dieses Jahr in der historischen Stadt ihre Beats, Sounds und Entwürfe präsentieren, ist ein Blick hinter die Kulissen. Denn: Das WOS ist nicht auf Wachstum ausgelegt. Rund 1.000 Teilnehmende kommen in den Genuss von Gigs, DJ-Sets, Performances und A/V-Shows. Dem Erfinder des Festivals, Iván Arias, ist das wichtig. Geschichtsträchtige Venues bieten die perfekte Kulisse für Musik und Ansätze, die fast genauso zerbrechlich sind wie die Gebäude selbst. Hier wird auch 2023 wieder hart geravt. Aber vor allem auch konzentriert zugehört. Und genau dieser Spannungsbogen macht den Reiz des Festivals aus.
Die Außenwirkung von Festivals wird vom Line-up bestimmt. Die Menschen dahinter kennt man kaum oder gar nicht. Darum stelle dich doch zunächst einmal vor. Was hast du vor dem WOS gemacht und wie sieht dein Aufgabenbereich aus?
Man könnte mich wohl am passendsten als Kulturmanager beschreiben. Ich bin jetzt 46 Jahre alt, die ersten Konzerte habe ich mit 19 organisiert, in meiner Heimatstadt hier in der Region. Ein Jahr später ging ich nach Santiago de Compostela an die Uni. Die Kulturszene dort faszinierte mich. Es gab zahlreiche Plattenläden und Konzert-Venues. Es war viel los – und ich wollte Teil davon sein. Einer meiner besten Freunde und ich hatten dann die Chance, einen Club in der Stadt zu eröffnen. Wir arbeiten bis zum heutigen Tag zusammen. Ich machte damals das Booking, er kümmerte sich um den Betrieb. Für ein paar Jahre brummte unser Club ganz ordentlich, so konnten wir auch die Studiengebühren bezahlen. Booking und Kuration war schon seit jeher eine Herzensangelegenheit für mich. Zu dieser Zeit verbrachte ich auch viel Zeit in einem Plattenladen, saß die ganze Zeit im Hinterzimmer und hörte mir die neuen Releases an. Gemeinsam mit den Leuten des Plattenladens begannen wir dann, Events mit elektronischer Musik in Clubs in ganz Galizien zu veranstalten – das war fast immer Techno. WOS habe ich 2012 gegründet. Die Techno-Szene war nicht mehr meins, ich wollte andere Dinge tun und ausprobieren, die auch mehr meinen eigenen musikalischen Interessen entsprachen. Das war mir wichtiger, als mit Techno Geld zu verdienen. So entstanden unterschiedliche Projekte, alle unter dem Dach von WOS. Zum Beispiel auch ein Label. Heute bin ich der Chef der Agentur und kümmere mich maßgeblich um das Booking und die generelle künstlerische Ausrichtung des Festivals.
Dann springen wir doch zurück ins Jahr 2014, als das Festival erstmals stattfand. Veranstaltungen dieser Art für elektronische Musik waren zu dieser Zeit bereits allgegenwärtig. Was wolltest du und dein Team anders machen? Was fehlte? Vor allem in Galizien, aber auch allgemein in Spanien und Europa?
Tatsächlich entstand das Festival fast nebenbei. Ich war auf der Suche nach neuen Ideen und Aktivitäten. WOS war für mich eine Art von „Ideen-Inkubator“, eine Plattform, die Kulturschaffende, Fachleute aus der Industrie und Künstler:innen aus verschiedenen Disziplinen und Bereichen zusammenbringen sollte – aus der Region für die Region. Ich nannte das WOS INC, wobei „INC“ nicht für Incorporated sondern für Incubator stand. Die Arbeit war eine starke und bereichernde Erfahrung und half vielen Menschen dabei, sich künstlerisch zu entwickeln – einen gemeinsamen Rahmen dafür zu schaffen. Das Festival war dann irgendwann der logische Schritt, eine Art Vorwand, um dieser Arbeit eine Bühne zu geben. Das Feedback auf die ersten Jahre des Festivals war so positiv, dass uns klar wurde, dass es wirklich Bedarf gab, das Festival fortzuführen. 2016 begann ich, das Festival so zu entwickeln, wie wir es heute kennen. Mit klarer musikalischer Ausrichtung. Die Idee: den avantgardistischen, rebellischen und transgressiven Geist der Stadt, die ich in meinen frühen Universitätsjahren kennengelernt hatte, wieder aufleben zu lassen, wenn auch nur jeweils für ein paar Tage. Und Galizien im zeitgenössischen kulturellen Universum zu positionieren.
Bleiben wir in der Region, bzw. in Santiago de Compostela. Die Altstadt gehört zum Weltkulturerbe der UNESCO, der Jakobsweg endet hier, die Stadt war früher Endpunkt der Via Regia und der Via Imperii. Die katholische Religion ist allgegenwärtig. All das hat Spuren hinterlassen: Santiago ist ein Ort voller Geschichte mit historischen Gebäuden und Stätten. Eine Fundgrube für ungewöhnliche Venues. Ich könnte mir vorstellen, dass das nicht ganz ohne Schwierigkeiten abläuft, diese Orte bespielen zu dürfen. Wie läuft das ab? Und wie beeinflussen die Locations das Booking bzw. andersherum?
Die Altstadt ist schon einzigartig. Und praktisch! Die Venues liegen nahe beieinander, sind fußläufig in nur wenigen Minuten von der Kathedrale erreichbar und haben dabei ihren ganz eigenen Charakter. Wir bespielen mit dem Festival unter anderem Theater, Museen, einen Markt, einen Park, Galerien, Konzertsäle, Kirchen, die Terrasse eines Stadtpalastes und ein Indie-Kino. Unsere Besucher:innen erleben nicht nur Musik, sondern lernen dabei auch die Stadt kennen, ihre Geschichte und die Kultur Galiziens. Aber du hast schon Recht: Es ist nicht einfach, Locations zu finden. Es wird immer schwieriger. Es kommen Jahr für Jahr mehr Pilger:innen in die Stadt, die Hotelpreise steigen, die Anzahl der Airbnbs auch. Mehr und mehr Einheimische können es sich nicht mehr leisten, in der Altstadt zu wohnen. Für uns hat das Konsequenzen. Tatsächlich geht es um den Fortbestand des Festivals. Das hat nicht nur mit den Locations für unsere Veranstaltungen zu tun. Es geht um die Frage, ob es perspektivisch überhaupt noch Sinn macht, das Festival weiterzuführen, wenn die generelle Stadtpolitik und die Idee unseres Projekts auseinander driften.
Die „Idee des Projekts“ ist ein gutes Stichwort. Worum geht es dir bei der Kuration? Was unterscheidet WOS?
Mir geht es vor allem darum, Acts für das Festival zu buchen, die man sonst in Spanien so gut wie nicht live erleben kann. Unser Booking ist speziell und auch durchaus finanziell riskant. Aber nur so entsteht ein Dialog. Zwischen der Musik und den Aufführungsorten, aber auch und vor allem mit lokalen Künstler:innen. Das ist kein Alleinstellungsmerkmal, wenn ich mir andere europäische Festivals anschaue. Gesellschaftliche Transformation spielt oft eine tragende Rolle. Tatsächlich fühle ich mich mit den Teams anderer Festivals eng verbunden. Unsere Herausforderungen sind sehr ähnlich. Ich schaue da ganz genau hin, lerne dazu und versuche, diese Erkenntnisse beim WOS zu integrieren.
WOS ist ein vergleichsweise kleines Festival. Liege ich richtig in der Annahme, dass du es nicht auf Wachstum, also mehr Besucher:innen, anlegst? Wie wichtig ist eine intime Atmosphäre für dich?
Das stimmt schon. Ich kuratiere sehr gerne für ein kleines Publikum. Beim Booking habe ich einfach mehr Freiheiten. Ich muss nicht primär an Ticketverkäufe denken, die ich nur mit bestimmten Künstler:innen erreichen kann. Die Art und Weise, wie das WOS funktioniert, entspricht auch meinen eigenen Vorlieben. Ich besuche am liebsten kleine Festivals. Die Atmosphäre und die Erfahrungen sind anders. Es ist besonderer und vor allem bereichernder.
„Das musikalische Engagement unseres Sponsors ist ernstgemeint.“
Rechnen muss sich das am Ende natürlich dennoch. Reden wir über das Geld: Euer Haupt-Sponsor, die Bierbrauerei „Estrella Galicia“, ist in euerer Kommunikation sehr prominent und sogar Teil des Festivalnamens. Vielleicht geht das nicht anders, gerade in der Kombination aus internationalen Künstler:innen und einem vornehmlich lokalen Publikum. Wie stellt man so ein Festival hin?
Ich bin ganz ehrlich. Die Entscheidung, eine Brand mit dem Namen des Festivals so zu verknüpfen, ist uns nicht leicht gefallen. Aber das musikalische Engagement der Brauerei – SON Estrella Galicia – ist ernst gemeint, die Strategie passt, und wir arbeiten gut zusammen. Die Brauerei kommt aus der Region, wir haben gemeinsame Werte. Hinter der Marke steht ein Team von Musikliebhaber:innen, und wir verstehen uns gut. Sie haben es uns ermöglicht, das Projekt auch in schwierigen Zeiten fortzuführen. Das ist wichtig und essenziell, wenn bestimmte Bookings auch finanzielle Risiken mit sich bringen. Unserem Sponsor geht es mehr um Qualität als um Quantität. Wir können tun, was wir wollen und für wichtig halten. Ich schätze das sehr.
Kann es Festivals wie das WOS überhaupt ohne finanzielle Unterstützung geben? Egal ob durch Unternehmen oder staatliche Förderung?
Nein, ein Festival wie WOS ist auf Förderung angewiesen. Das hat Konsequenzen. Wir gehen jedes Jahr mit dem Gedanken in die Planung, dass es das letzte Festival sein könnte. Staatliche Förderprogramme sind für Projekte unserer Größe und Ausrichtung einfach unberechenbar. Also arbeiten und planen wir von Jahr zu Jahr. Mittel- oder langfristige Planungen sind unrealistisch. Das Geld ist da, wird aber vor allem für kommerziell erfolgversprechende Projekte ausgegeben. Das macht mich schon nachdenklich. Wird das alles noch schlimmer? Engagieren wir uns immer noch an der richtigen Stelle? Das Frustrierendste am Job ist der administrative Aufwand. Wenn du öffentliche Mittel beantragst, bist du mit einer bürokratischen Struktur konfrontiert, die dein Anliegen oftmals einfach nicht versteht. Vielfalt, Integration? Das sind Dinge, die in Spanien einfach nicht sonderlich geschätzt werden.
Während und nach der Pandemie haben sich Dinge verändert. Künstler:innen wollten wieder spielen, die Infrastruktur war aber einfach nicht mehr da. Menschen hatten sich andere Jobs gesucht, alles wurde teurer und war nicht mehr so einfach verfügbar. Wie seid ihr damit 2022 umgegangen?
Die Gesamtkosten 2022 hatten sich im Vergleich zu 2019 verdoppelt – trotz reduziertem Programm und Line-up. Das war ein Schock, und wir arbeiten immer noch daran, ein Programm aus den Zeiten vor der Pandemie aufstellen zu können. Vielleicht ist es 2024 soweit. Das tut weh, aber ich muss das akzeptieren.
Das Line-up des WOS ist sehr international. Regionale Künstler:innen spielen aber auch eine große Rolle. Wie ist denn die Szene in Galizien im Moment?
Es ging uns immer um beide Seiten. Die Szene für elektronische und experimentelle Musik in Galizien ist besser denn je. Nach der Pandemie traten viele neue Kollektive auf den Plan mit eigenen Veranstaltungen. Und auch die „alte Garde“ ist wieder da. Wir alle arbeiten uns an den Veränderungen ab. Ich habe das Gefühl, dass sich gerade junge Menschen engagieren. 2023 widmen wir das Hauptprogramm des Festivals dem generationenübergreifenden Dialog über elektronischen Sound in Galizien.
Das geschieht nicht nur mit „normalen“ Gigs. A/V-Shows spielen schon seit Jahren eine große Rolle beim WOS. Ganz andere Formate denkt ihr auch mit.
Die vielen unterschiedlichen Venues machen das möglich und auch unausweichlich. Das macht auch den Reiz des Festivals aus. Wir präsentieren nicht nur diverse Arten von Musik, sondern auch viele Formate. Neuen Jazz, HipHop, Rock, DJ-Sets oder audiovisuelle Performances. Das Audiovisuelle ist nur ein Aspekt unseres Line-ups, das ist kein Fetisch. Einige der Venues bieten sich dafür einfach an. Das ist auch eines unserer Alleinstellungsmerkmale im Reigen der spanischen Festivals.
Welche Venues bespielt ihr dieses Jahr?
Zusätzlich zu den üblichen Veranstaltungsorten wie Kirchen, Theatern, Kinos und Konzertsälen werden wir dieses Jahr zum ersten Mal in einer Location arbeiten, in der eigentlich gar keine Kulturveranstaltungen stattfinden. Die neue Location ist die Fundación Laboral de la Construcción, eine ehemalige Fabrik. Dort findet unser Programm am Samstagabend statt. Schon 2019 hatten wir die Idee, das Nachtprogramm des Festival weiterzuentwickeln. DJ-Sets und das dazugehörige Club-Gefühl sind wichtig, war uns aber nicht genug. Wir wollten auch die Festival-Atmosphäre in die Nacht transportieren.
Als Booker kannst du diese Frage wahrscheinlich nur schwer beantworten. Ich versuche es dennoch. Worauf freust du dich 2023 am meisten?
Puh, ja, aber nein, aber doch! Ich bin besonders gespannt auf die Auftritte von Malibu und Laurel Halo, die Session von Kia und die A/V-Konzerte von Shackleton & Zimpel mit Siddhartha Belmannu und Pedro Maia sowie Aho Ssan & Sevi Iko Dømochevski. Es gibt viele Dinge, auf die ich mich freue. Ich war in letzter Zeit tatsächlich kaum auf Festivals unterwegs. Und würde mir eigentlich wünschen, das WOS 2023 nur als Zuschauer mitnehmen zu können.