Drei Tage wachBuchrezension: „Beautiful Things – Meine wahre Geschichte“ von Hunter Biden
20.5.2021 • Kultur – Text: Jan-Peter WulfDer Sohn des amtierenden US-Präsidenten hat ein Buch über sein Leben geschrieben. Von Memoiren kann man aber eher nicht sprechen, denn großenteils spricht Hunter Biden, und das ziemlich schonungslos, über seinen Erinnerungs- und Kontrollverlust: Wodka, Crack, Delirium, Absturz, Neuanfang. Jan-Peter Wulf hat das Buch gelesen.
„Ich liebe dich.“ Dieser Satz nimmt in Hunter Bidens eine zentrale Rolle ein. Es ist der erste Satz, den sein Bruder Beau, ein Jahr und einen Tag älter, zu ihm sprach, als sie als Drei- bzw. Zweijährige im Krankenhaus zu sich kamen. Sie beide hatten einen schrecklichen Autounfall überlebt, ihre Mutter und ihre kleine Schwester hingegen nicht. Ein LKW voller Maiskolben hatte das Auto der Familie auf einer Kreuzung gerammt, als sie ohne den Vater auf dem Weg zur Besorgung eines Weihnachtsbaumes war. Das war am 18. Dezember 1972, Vater Joe Biden war kurz zuvor in den Senat gewählt worden. Die Vereidigung sollte später im Krankenzimmer der Kinder stattfinden. Man kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie das für die Kinder und den Vater gewesen sein muss. Sicher nur ist: Alle drei wurden durch diesen tragischen Unfall förmlich aneinander geschmiedet, schreibt Hunter in seinem Buch „Beautiful Things“.
Schöne Dinge: Das ist auch ein Satz seines Bruders. Einer, den er öfter sagen sollte. Besonders kurz bevor er im Mai 2015 seinem Hirntumor erlag. Auf einmal war der große Beschützer und Aufpasser weg, der Hunter, der schon zu Schul- und Unizeiten viel Alkohol trank, den Rücken frei hielt. Gab es Stress oder Probleme, Beau war für seinen kleinen Bruder da. Nach seinem Tod begann dann der freie Fall: Beau beginnt Unmengen zu trinken. Seine Frau trennt sich von ihm, er muss aus dem Haus der Familie ausziehen, bezieht Wohnungen und verlässt sie, trinkt, steigt in irgendwelchen Hostels ab, trinkt – schließlich teils mehrere Flaschen Wodka am Tag, um die Entzugsschmerzen, die sich schon nach kürzester Zeit einstellen, zu betäuben.
Eine dienstliche Reise nach Jordanien beschreibt er als Trip zwischen Delirium und Schweißausbrüchen, Aufenthalte in Entzugseinrichtungen haben nur kurzfristigen Erfolg. Es geht eine Etage tiefer, als er von Alkohol auf Crack wechselt bzw. es dazu holt. Und Crack wird zur neuen Lebensgefährtin: Der Kontakt zur Familie bricht mehr oder minder ab, Hunter macht mit einer Washingtoner Obdachlosen, die ihn mit neuem Zeug versorgt, eine Quasi-WG in seinem Apartment auf, flieht irgendwann nach Kalifornien, um dort in Luxusresorts mit falschen Freunden Crack zu rauchen und Champagner zu bestellen sowie Filet Mignon für mitgebrachte Hündchen irgendwelcher Leute. Ständig ist irgendwas weg, die Brieftasche, die Kreditkarten, der iPod, alles nehmen seine Gäste mit, ohne dass er davon noch etwas mitbekommt. Geldfluss ist aufgrund eines gut dotierten Postens in einem Aufsichtsrat eines ukrainischen Unternehmens, Burisma, gut vorhanden – die Trump-Administration versuchte bekanntlich, ihm aus dieser Tätigkeit einen Strick zu drehen, beziehungsweise dem Vater natürlich.
Joe Biden ist in diesem Buch seltsam abwesend. Ja, der Vater ist eine zentrale Figur in Hunters Leben – vor den Drogen. Aber seine Versuche, den Sohn zu einer Umkehr zu bewegen, sie bleiben hilflos. Weil Hunter sich, das beschreibt er, gar nicht helfen lassen will. Er lernt statt dessen selbst Crack zu kochen, raucht viertelstündlich, mitunter Popcorn und Käse, weil er es von den Drogen nicht mehr unterscheiden kann. Er ist manchmal drei Tage am Stück wach, manchmal fast sechs. Er baut zugedröhnt Autounfälle, fährt stundenlang in die falsche Richtung, kauft sich sauberen Urin, um bei Drogentests im Rahmen von Entziehungsversuchen nicht aufzufallen. Einen Schritt vor und zehn zurück, das sei sein Bewegungsmodus gewesen, schreibt er an einer Stelle.
„Beautiful Things“ ist mit Hinblick auf seine Sucht eine schonungslose Offenbarung, Biden versteht es plastisch zu machen, warum ein Süchtiger ein Süchtiger ist, warum Sucht so funktioniert, wie sie funktioniert. Wo ist meine Pfeife? Mehr als alles andere habe ihn jahrelang diese Frage beschäftigt. Eigentlich nur das. Spannend ist, wie er beschreibt, dass man ab einem gewissen Punkt Lebensereignisse – die Traumata der Kindheit zum Beispiel – nicht mehr anbringen könne, um eine Sucht zu begründen, sie erlangt etwas rein Selbstreferenzielles. Und das Ende ist eigentlich programmiert.
Dass es dann anders kommt und mit Melissa Cohen eine Frau in sein Leben tritt, die es schafft, ihn zurück zu holen, liest sich im Buch geradezu verrückt: Zufallsbegegnung, Schockverliebtheit, Heirat nach nur einer Woche. Das war 2019, bis heute hatte Biden jr. keinen Rückfall. „Beautiful Things“ ist ein Buch mit irren Momenten und manchmal elegischen Ausführungen über Bidens Dahinsiechen. Es ist aber auch über eine Präsidentenfamilie, deren Schicksalsschläge, wenngleich keinen Morden geschuldet, den Kennedys in wenig nachsteht. Oft pathetisch und gleichzeitig maximal unglamourös. Dass der Mann nach all dem, was er getrunken und geraucht hat, überhaupt noch am Leben ist, grenzt an ein pures Wunder. Man kann ihm nur alles Gute wünschen.