Pionierin des KinosDie Geschichte von Alice Guy als Graphic Novel
13.7.2023 • Kultur – Text: Ji-Hun KimVor 150 Jahren wurde die Pionierin des Films Alice Guy geboren. Die umfangreiche und eindrucksvolle Graphic Novel von Catel & Bocquet erzählt ein fast vergessenes Leben und beweist zugleich, wozu Graphic Novels in der Lage sein können.
Geschichtsschreibung, auch die der Kunst- und Kulturgeschichte ist im seltensten Fall objektiv. Denn wie es bekanntlich heißt, ist Geschichte auch immer die Geschichte der Mächtigen. Zur Zeit werden zahlreiche Diskurse über koloniale Raubkunst geführt, die über Jahrhunderte in westlichen Museen zur Schau gestellt wurden. Und allmählich fangen Museen auf Druck der Gesellschaft an, Kunstwerke und Artefakte vor allem nach Afrika zu restituieren. Man muss unterdessen gar nicht so lange und weit zurückblicken. Geschichtsnivellierungen gab es auch in Europa und den USA im 20. Jahrhundert in damals neuen Kunstformen wie Kino und Film. Besonders traf dies Alice Guy, die erste Film-Regisseurin, Drehbuchautorin, Produzentin und Studiochefin der Welt. Nun wird ihre Geschichte in einer umfangreichen Graphic Novel auf aktuellem Forschungsstand erzählt.
Alice Guy wurde vor 150 Jahren, am 1. Juli 1873, in Saint-Mandé in der Nähe von Paris geboren. Im Alter von 17 Jahren beginnt sie als Stenotypistin zu arbeiten und wird 1894 von Léon Gaumont als Sekretärin beim „Comptoir général de La photographie“ in Paris eingestellt. Die französische Hauptstadt ist zu dieser Zeit, dem Fin de Siècle, ein weltweit einmaliger Inkubator technologischer und künstlerischer Entwicklungen. Die Bilder lernten bei den Gebrüdern Lumière das Laufen. Gustave Eiffel baut den Eiffelturm, und Alice Guy übernimmt immer mehr Verantwortung unter ihren Chef Gaumont und dreht 1896 im Alter von 23 Jahren ihren ersten Film „La Fée au Choux“. Hunderte weitere sollten folgen, und die meisten davon werden große Publikumserfolge. Später leitet sie das Studio Gaumont, das seinerzeit das größte Filmstudio der Welt ist. 1906 dreht sie mit dem Passionsstück „La vie du Christ“ ihren ersten lange Spielfilm, in dem über 300 Statist:innen mitwirkten und das erste Sandalenepos überhaupt gewesen ist. Rückblickend wird Alice Guy sagen, dass sie wohl nie diese Chance in einer von Männern dominierten Gesellschaft bekommen hätte, wäre die Filmkunst bereits etabliert gewesen. Frauen spielten in der Geschichte oft in neuen Disziplinen eine prägende Rolle, bis sie dann von Männern verdrängt wurden, sobald es vor allem auch um Macht und Geld ging. Sei es beim Fliegen von Flugzeugen, Autorennsport, dem Programmieren von Computern und eben auch Film. Die Zeit von Hollywood sollte ja erst noch kommen.
Alice Guy experimentierte bereits mit Doppelbelichtungen, Tricktechniken und Zeitlupen als die allermeisten in Film noch bewegte Fotografien sahen. Aber auch inhaltlich setzte sie andere Akzente als ihre männlichen Kollegen wie Georges Méliès. In ihrer 1906 gedrehten Komödie „Les Résultats de Feminisme“ (Die Konsequenzen des Feminismus) verkehrt sie die gesellschaftlichen Rollen von Frauen und Männern. Hier sind es die Männer, die bügeln, putzen und sich um die Kinder kümmern, während die Frauen Zigarren rauchen, Zeitung lesen, sich in Salons betrinken und junge Männer auf offener Straße angraben und betatschen.
Später zieht Alice Guy in die USA und gründet dort das Filmstudio Solax. Sie produziert bis 1914 über 300 Filme und führt in mindestens 40 Regie. In über 300 Seiten erzählen Catel Muller und José-Louis Bocquet das Leben der Pionierin nach. Ein Leben, das von erfinderischem Geist und künstlerischem wie unternehmerischem Talent geprägt ist, aber auch von Sexismus, Ausnutzung und Ausbeutung. Die zweite Lebenshälfte verbrachte Alice Guy damit, ihr Werk zu konsolidieren. Meist ohne Erfolg. In den Anfangstagen gab es im Film noch keine Credits, und ein Großteil ihrer Arbeiten wurde später männlichen Kollegen zugeschrieben. Auch ihre Autobiografie, die sie 1953 finalisierte, fand keinen Verlag und sollte erst posthum veröffentlicht werden. Als die erste große Chronik des Unternehmers Gaumont veröffentlicht wird, taucht Alice Guy nur am Rande auf. Das Hauptaugenmerk gilt dem Regisseur Louis Feuillade. Am 24. März 1968 stirbt Alice Guy in einem Pflegeheim in New Jersey. Nach ihrer aktiven Zeit als Pionierin des Kinos sollen auch Bitterkeit, mangelnde Wertschätzung und Demütigung eine Rolle in ihrem Leben spielen.
Catel & Bocquet erzählen die Passagen rasant, so wie in Guys frühen Stummfilmkomödien. Man taucht ein in eine Ära, in der die Grundlagen für etwas geschaffen wurden, was heute als globale Unterhaltungsindustrie agiert. Diese Graphic Novel ist daher in vielerlei Hinsicht eine inspirierende und imposante Arbeit. Weil sie uns heute einfühlsam und zugänglich ein fast vergessenes Leben näher bringt. Existente Geschichtsschreibung konstruktiv und künstlerisch in Frage stellt, und zugleich zeigt, dass die Graphic Novel selbst als Kultur- und Kunstmedium ernster genommen darf. Denn wie beim Kino in den Anfangstagen, haftet Comics und Graphic Novels bis heute das Image des Unseriösen und Juvenilen an. Diese Graphic Novel zeigt mit umfangreichen Film- und Literaturangaben und Kurzbiografien, wozu dieses Medium in der Lage sein kann: Geschichte ernsthaft und reflektiert, aber vor allem lebhaft und eindrücklich zu inszenieren.
„Alice Guy – Die erste Filmregisseurin der Welt“ ist im Splitter Verlag erschienen.