Man kann nicht alle interessanten Texte finden, die die ganze Woche über publiziert werden, geschweige denn lesen. Immer sonntags stellt die Redaktion an dieser Stelle vier bemerkenswerte Artikel vor, die über unsere Displays geflimmert sind und dabei zum Glück abgespeichert wurden.
##Berliner Chaos
Seit Monaten ist die Situation am LAGeSo in Berlin für Flüchtlinge katastrophal. Und während in den Medien hierzulande oft nur über die immense Zahl der Flüchtlinge und vermeintliche Kontingentierungen diskutiert wird, stellt sich die New York Times die Frage: Wie kann es sein, dass Menschen in Berlin tage-, wenn nicht wochenlang im kalten Winter warten und verharren müssen, ohne zu wissen, wie ihnen geschieht? Die Journalistinnen Melissa Eddy und Katarina Johannsen skizzieren die Situation aus einer erfrischend undeutschen Sicht und stellen fest, dass Berliner Bürokratie, Unflexibiltät und administrative Unfähigkeit an dem Dilemma nicht ganz unschuldig sind. Es handle sich im Grunde genommen um keine Flüchtlingskrise, sondern um eine Verwaltungskrise.
“I mean, it’s Germany [...] They have a system for everything. There must be an easier way.”
Migrants Arriving in Germany Face a Chaotic Reception in Berlin
Sozialwissenschaft am Modell: Party
Welche Getränke? Welche Location? Welche Musik? Und wen laden wir überhaupt ein? Die Party ist ein komplexes, soziologisches Phänomen, welches der Gastgeber zu kontrollieren bzw. zu beeinflussen versucht. Heinz Bude ist Professor für Makrosoziologie in Kassel und hat für Die Welt das Partytreiben analysiert. Erst arbeitet er sich den üblichen Bestandteilen einer durchfeierten Nacht ab (Getränke, Drogen, Essen, Tanzen), dann geht er die jüngere Geschichte des Feierns von Partykeller bis Berghain durch. Spaß macht der Artikel vor allem, weil die Party durch die Soziologenbrille betrachtet wird und sozialwissenschaftliches Vokabular auf Feieralltag trifft. Das sorgt für Schmunzler:
„Man ist vielleicht instruiert worden, wo es was zu essen gibt und wo das Bier kalt gestellt ist, aber dann muss man sich um die Kommunikation in dieser aus Bekannten und Unbekannten bestehenden Gruppe selbst kümmern. Der Aufbau eines zeitlich terminierten Ego-Netzwerks gehört zur Leistung, die man von Partygängern erwartet. Entscheidend sind dann natürlich die Blicke, die, mit Paul Watzlawick gesprochen, den Unterschied zwischen Inhalts- und Beziehungsaspekten klarstellen.“
##Die Poesie der Gurke
Das Thema Sterneküche liegt zur Zeit (mal wieder) voll im Trend und kein Koch sorgt hierzulande derzeit für so viel Aufsehen wie der 38-jährige Kevin Fehling, der seit August 2015 das „The Table“ in Hamburg betreibt. Seit dem 12. November gibt es einen neuen Guide Michelin und Fehling ist seitdem nicht nur der jüngste Drei-Sterne-Koch Deutschlands, mit seinem neuen Restaurant schaffte er es erstmalig, dass eine Küche direkt im ersten Jahr alle drei möglichen Sterne einheimsen konnte. Elisabeth Raether schrieb für das Zeit Magazin ein lesenswertes Portrait über Fehling und den Wahnsinn der Sternegastronomie. Hier geht es ums Kochen als Theaterinszenierung, zwei Sekunden, die den Unterschied machen und die Tatsache, dass mit Essen an sich das alles eigentlich nur noch wenig zu tun hat.
Der Drei-Sterne-Koch von heute geht nicht auf die Jagd. Er bleibt zu Hause. Er konstruiert. Aus ihm ist ein Ingenieur geworden. Nicht das Produkt steht im Mittelpunkt, sondern die Arbeit, die in ein Gericht geflossen ist.
##Gender Trouble im Silicontal
Vor anderthalb Jahren führte ausgerechnet das so prüde und stockkonservativ anmutende Facebook über 50 neue Geschlechts-Identitäten ein. It´s complicated. Brielle Harrison ist eine der Entwicklerinnen, die maßgeblich an diesem Schritt beteiligt war. Harrison war mal ein Mann und Harrison hat als Frau in vielen großen Unternehmen des Silicon Valley gearbeitet: Google, Netflix, Facebook. Jetzt ist sie bei Apple. Dass sie in all diesen Unternehmen als Frau wahrgenommen und akzeptiert wurde und wird, zeugt nur scheinbar von Toleranz und „corporate equality“. Es bedeutet auch, wie sie in diesem etwas zähen Text erzählt, dass sie ihre Arbeit ganz anders rechtfertigen und Innovationsideen mit Daten unterfüttern muss, als die männlichen Kollegen. Willkommen zurück, Regression.
„I thought tech would be a progressive place to work as a trans woman. It isn't – but it doesn't have to stay this way.“