Man kann nicht alle interessanten Texte finden, die die ganze Woche über publiziert werden, geschweige denn lesen. Immer sonntags stellt die Redaktion an dieser Stelle vier bemerkenswerte Artikel vor, die über unsere Displays geflimmert sind und dabei zum Glück abgespeichert wurden.
Highscore-Überwachung
Falls jemand von euch die Serie „Black Mirror“ noch nicht kennen sollte, hiermit nochmal eine definitive Sichtempfehlung. Die letzte Staffel beginnt mit der Episode „Nosedive“. Eine junge Frau lebt in einer Social-Media-geprägten Gesellschaft, in der alles bewertet wird, was im Alltag geschieht. Allerdings ist dieser Score für das Leben derart bedeutsam, dass es schnell zum Fluch werden kann, wenn man trotz aller Bemühungen auch nur ein bisschen Pech hat. Ein wahres Horrorszenario. Dystopie? Überzogene Science-Fiction? Leider nein. Wie die chinesische Regierung bekannt gegeben hat, wird derzeit das sogenannte Social Credit System (SCS) entwickelt. Ein Punktesystem, unter dem ab 2020 jeder der 1,3 Mrd. Einwohner, aber auch Firmen und Institutionen bewertet werden sollen. Wenn Big Data auf Big Brother trifft. Für die Wired hat Rachel Botsman einen ausführlichen Artikel geschrieben. Was eine Regierung tut, um ein nationales „Vertrauen“ und eine Gesellschaft der „Ehrlichkeit“ zu schaffen und welche Konsequenzen das haben könnte. A brave new world – eine Rückkehr scheint ausgeschlossen.
„The Chinese government is pitching the system as a desirable way to measure and enhance "trust" nationwide and to build a culture of "sincerity". As the policy states, "It will forge a public opinion environment where keeping trust is glorious. It will strengthen sincerity in government affairs, commercial sincerity, social sincerity and the construction of judicial credibility.““
Big data meets Big Brother as China moves to rate its citizens
Abtreibung und Pränataldiagnostik
Die Berliner Autorin Laura Ewert hat ihr Kind abtreiben lassen. Weil Ärzte sagten, die Wahrscheinlichkeit bestünde, dass das Baby behindert zur Welt kommen könnte. Ewert schreibt für die taz eindringlich und bewegend über diese Zeit. Diese Zeit der Ungewissheit, der schwerwiegenden Entscheidungen, den Schmerz, die Trauer und den Abschied. Ein wichtiger Beitrag zum Fluch und Segen der heutigen Pränataldiagnostik und der Tatsache, dass, obwohl man ständig auf der Suche danach ist, es wohl weder ein falsch noch richtig gibt.
„Die Narkose dauert 15 Minuten. Die Tränen dringen durch die Betäubung in den neuen Zustand. „Ich habe nicht auf mein Kind aufgepasst.“ Die Ärztin sagt, es war ein Junge und es war die richtige Entscheidung. Mein Mann sagt später, sie habe auch gesagt, er sei schwer krank gewesen. Ich habe das nicht gehört. Obduktion? Ja. Ich will das alles wissen.“
##Restaurantkritikkritik
Attila Hildmann, der Populist unter den Veganern, hat es mal wieder getan: Eine – zugegebenermaßen auch nicht gerade feinsinnige – Tagesspiegel-Kritik an seinem (natürlich veganen) Imbiss nahm der Berliner Gastronom zum Anlass, die Journalistin persönlich unter der Gürtellinie zu gegenkritisieren. Wir verlinken Aktion und Reaktion hier nicht, weil sie beide Banane sind. Wohl aber diesen Metabeitrag zum Thema, der noch einmal zusammenkehrt, wie das Verhältnis von Gastronom zu Rezensent sein sollte, vor allem aber wie eine ordentliche Restaurantkritik zu entstehen hat: sachlich und anonym. Auch wenn wir den Hype um den Guide Michelin, letztlich ein Tool, um mehr Reifen zu verkaufen, für maßlos überzogen halten – die Art und Weise, wie hier Kritiken zustande kommen, ist schon okay. So verfahren schließlich auch viele andere Medien, von den „geht aus“-Magazinen bis hin zu „Berlin Food Stories“ (ein Blog, der wahrlich nicht nur das Wort lecker benutzt, wie dieser Artikel an seiner dünnsten Stelle für Foodblogs konstatiert). Letztlich kann man sagen: Dem Tagesspiegel ging es nur um Aufmerksamkeit, Hildmann mit seiner Pumpgun-Reaktion auch. Das ist ein bisschen wenig für den Leser. Denn der möchte eine ordentliche Antwort auf die Frage: Kann ich hier gut essen oder eben nicht?
„Im Idealfall treffen bei der Begegnung von Koch und Kritiker zwei sehr begabte Kunsthandwerker aufeinander. Im ungünstigsten Fall jedoch begegnen sich zwei Kunsthandwerker, die sich beide für Künstler halten. Dann wird es schwierig, weil sie dann wechselseitig meist nicht mehr in der Lage sind, die jeweils unterschiedlichen Talente und Begabungen zu würdigen.“
Kulturelle Aneignung
Wenn Grim von Zugezogen Maskulin auf dem neuen Album rappt, „Alles ist zum Kotzen, Mittelmaß, wohin man sieht / Na ja, mit etwas Glück sterb' ich bald in einem Krieg / Das ist tragisch, doch dir kann auch viel Schlimmeres passier'n / Zum Beispiel bei Facebook über Dreadlocks diskutier’n“, zielt er ganz klar auf Diskussionen ab, die sich um das Thema „kulturelle Aneignung“ drehen – die Übernahme kultureller Elemente von Minderheiten durch die „weiße Dominanzkultur.“ Das Thema ist verflixt. Denn einerseits klammert dieser Akt der Aneignung die diskriminierende und historische Komponente aus, andererseits ist die Übernahme und Vermischung von Kultur seit jeher auch für dessen Entwicklung entscheidend gewesen. Die oberflächliche (Facebook-) Diskussion dreht sich an dieser Stelle grundsätzlich im Kreis. Wer den durchbrechen und ein bisschen tiefer gehen möchte, dem sei dieser starke Text von Jens Kastner beim Deutschlandfunk ans Herz gelegt. Er zeigt die Probleme auf beiden Seiten der Diskussionsfronten auf – und das auf mehreren Ebenen.
„Wenn es nur für Schwarze legitim sein soll, Dreadlocks zu tragen, wird eine kulturelle Praxis - das Frisieren - an eine als kulturell verstandene Zugehörigkeit gebunden - Schwarzsein. Kultur besteht dann nicht mehr aus Prozessen, in denen Menschen bestimmte Handlungen mit Sinn und Bedeutungen ausstatten. Stattdessen werden sie bloß als ausführende Agenten und Agentinnen eines bereits vorhandenen Fundus an Bedeutungen gedacht.“