Leseliste 03. März 2019 – andere Medien, andere ThemenMöbliertes Wohnen, Paparazzi, Tulum am Ende und Artisanal Internet

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Jede Woche liest die Redaktion das Internet leer, um sonntäglich vier Lesestücke empfehlen zu können. Artikel, die interessant, relevant oder gar beides sind – und zum Glück abgespeichert wurden.

Möbliertes Wohnen

Bezahlbaren Wohnraum in Berlin? Gibt es nicht mehr. Und auch wenn der Senat zaghaft und viel zu spät versucht gegenzusteuern, tut sich ein neues Problem auf, das bislang eher unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung blieb und von Vertreter*innen der Landesregierung geduldet, wenn nicht sogar befördert wird: die Vermietung von möblierten Wohnungen. Die Datenabteilung des Tagesspiegel hat den Berliner Markt analysiert und zig Tausende solcher Wohnungen identifiziert. Die Gesetzeslücke: ist eine Wohnung möbliert und wird längerfristig vermietet, also nicht tageweise, spielen der Mietpreisspiegel, Milieuschutz und Mietpreisbremse keine Rolle mehr. Vermietet werden diese Wohnungen durch Agenturen, zum Beispiel „Wunderflats“. Von der landeseigenen Investitionsbank IBB hat man Förderung kassiert. Und das landeseigene Unternehmen „Berlinovo“ betreibt 6.500 dieser Wohnungen gleich selbst.

„Die Praxis demonstriert, wie Vermieter bewusst Schwachstellen des Gesetzes nutzen, um den Begrenzungen durch Bezirksämter zu entgehen.“

Möbel statt Mietpreisbremse

Paparazzi

Im Winter 2014 landet Herbert Grönemeyer mit seiner Familie am Flughafen Köln/Bonn. Der Musiker möchte seine Mutter besuchen. Grönemeyer lebt bekanntlich seit langer Zeit in London. Am Flughafen lauern ihm jedoch zwei Paparazzi auf und die Situation eskaliert. Später heißt es in der Bild und anderen Boulevardmedien, Grönemeyer hätte einen Wutausbruch gehabt und die Fotografen verletzt. Der bekannteste Bochumer wird daraufhin sogar wegen Körperverletzung angeklagt. Nun wurde der Fall vor Gericht verhandelt. Allerdings hat die Geschichte eine fundamentale Wende erfahren. Für Mittwoch wird ein Urteil erwartet.

„Das war wie eine Jagdszene, der eine macht hinten zu, der andere vorne, wie beim Kesseltreiben, es gab keinen Ausweg.“ Wäre er gefragt worden, hätte er ja ein Foto gemacht, sagt Grönemeyer, so laufe das eigentlich immer. „Aber nicht so, nicht meine Familie, die ist tabu“, sagt er. Die Sache habe sie noch monatelang begleitet. Noch heute, erzählt Grönemeyers Lebensgefährtin später, würden sie in der Öffentlichkeit nicht mehr als Familie zusammen laufen, sondern versetzt, falls Grönemeyer fotografiert wird. Damals sind die Klatschzeitungen voll von Schlagzeilen über den prügelnden Sänger. Das Video ist so zusammengeschnitten, dass es aussieht, als habe Grönemeyer zwei Männer aus dem Nichts attackiert und verletzt. Er wirkt wie ein Verrückter.“

"Hast du das aufgenommen?“

tulum

Foto: Redaktion

Too many DJs

Einst war Tulum ein wunderschönes, verschlafenes Fleckchen an Mexikos Karibik-Küste mit historischem Tempel. Dann kamen die Sandalen-Touristen („barefoot luxury“). Die konnte der schmale Strandstreifen ohne permanente Stromversorgung noch ertragen. Dann, vor fünf, sechs Jahren, wurde Tulum das Ibiza Amerikas, halb New York wollte hier feiern, Hotels wurden hochgezogen, Influencer machten den Spot zum Place-to-be, heute kann man für mehrere hundert Dollar und weit darüber hinaus pro Nacht in Luxux-Eco-Chic-Hotels nächtigen. Die Grundstückspreise steigen in den Himmel. Das Kopenhagener Restaurant „Noma“ eröffnete ein Pop-up, die Raves in den Hotels und Playa-Resorts und die EDM-Festivals, die sich selbstvergessen mitten in den Urwald platzieren, geben sich in die Klinke in die Hand ... und die örtliche Infrastruktur, insbesondere die Müllentsorgung, kommt nicht mehr hinterher. Die Natur, insbesondere die natürlichen Wasserlöcher, die Cenotes, leiden. Und natürlich ist auch das Drogenbusiness, dass in Yucatan bislang keine so große Rolle gespielt hat, vom Tulum-Hype angezogen worden. Wie konnte das alles passieren? Und wohin wandert die globale Hedo-Parade weiter? Ein langes, großartiges Lesestück.

„The first rule posted on a government sign instructing visitors on how to interact with sea turtles is a request not to sit on them.“

Who killed Tulum?

Artisanal Internet

Der Ruf nach dem, was bei Wired hier „Artisanal Internet“ genannt wird, scheint lauter zu werden. Gemeint ist damit eine Abkehr von den heute üblichen, schädlichen Mechaniken, denen insbesondere die Nutzer von Social Media unterworfen sind: Algorithmen, die nichts fördern, außer längerer Screen-Time und eine Verkürzung der Nutzungsintervalle. Dem war übrigens nicht immer so. Darauf aufmerksam machen interessanterweise immer mehr ehemalige Mitarbeiter*innen ebenjener großen, digitalen Junk-Food-Ketten: Twitter, Facebook, Google. Und wollen eine Art Slow-Food-Movement für das Internet initiieren. Ob's klappt bleibt fraglich. Wir hätte nichts dagegen.

„Silicon Valley doesn’t like to look backward, but this newfound willingness to move slow and make things coincides with the decay of beloved services like Flickr and Tumblr after they were swallowed by larger tech companies.“

The Soothing Promise of Our Own Artisanal Internet

Wochenend-WalkmanDiesmal mit James Bernard, Bonobo und XXX

Pageturner: Literatur im März 2019Frederika Amalia Finkelstein, Édouard Louis und Annie Ernaux