Erst WWW bzw. Web 1, dann Web 2.0 und jetzt die nächste Iteration: Web3. Was ist anders über den Begriff hinaus? Alter Schrott aus neuen Schläuchen oder steckt mehr dahinter? Und: cui bono? Timo Daum hat sich das neue Netz genauer angeschaut.
Ist der Ruf erst ruiniert, liegt ein Re-Branding nahe – vorzugsweise hübsch verpackt und mit einem neuerlichen technologischen Heilsversprechen garniert. So geschehen gerade bei Facebook, das angesichts zahlreicher Skandale, anhaltenden Regulationsdrucks und nicht zuletzt einer Erosion der Nutzer:innenbasis die Flucht nach vorn angetreten hat: Facebook heißt jetzt Meta und erfindet sich neu im Metaversum.
Metaversum ist ein dauerhafter (über eine Arbeitssitzung hinaus existierender) virtueller Raum, der als eine Art erweiterte Version der physischen Realität dient. Ein Metaversum ist eine immersive 3D-Umgebung, die von mehreren Benutzer:innen geteilt wird, die über Avatare (virtuelle Kunstfigur, die die Benutzer:innen repräsentieren) miteinander interagieren. Der vielleicht bekannteste Metaverse-Prototyp ist die virtuelle Online-Welt Second Life, die es seit 2003 gibt. Der erste, der über das Metaversum schrieb, war Neal Stephenson in seinem Roman „Snow Crash“ von 1992. Das Konzept alternativer elektronischer Welten ist aber wesentlich älter. Realisiert finden sich Metaversen derzeit noch in erster Linie in Spielen wie World of Warcraft, Fortnight oder Everquest. Das wird sich vermutlich bald ändern, ist John David N. Dionisio, Professor für Informatik an der Loyola Marymount University, überzeugt: „Bestimmte Tech-CEOs denken jetzt laut darüber nach, wie das Metaversum für sie funktionieren könnte“, schreibt er für das MIT-Magazin, Ausgabe Januar 2022. Mit „funktionieren“ ist hier gemeint, dass sich mit ihnen ein Haufen Geld verdienen lässt.
Ein weiteres Re-Branding erfährt gerade die Blockchain. In den letzten Jahren ist diese Technologie nicht gerade populärer geworden.
Eine Blockchain ist eine dezentrale Datenbank, deren Inhalte – als Blöcke zusammengefasst – auf einer Vielzahl von Rechnern in einem Netzwerk gespeichert sind. Sie ist im Wesentlichen ein digitales Transaktionsbuch, das dupliziert und über das gesamte Netzwerk von Computersystemen verteilt ist. Diese Art der Speicherung von Information macht es schwierig bis unmöglich, Einträge unbefugt zu verändern oder das System zu hacken. Die Erwartungen an die Blockchain teilweise auch von linker Seite sind hoch, verspricht sie doch als dezentralisierte, offene Buchhaltungstechnologie ähnlich wie Freie Software mehr Transparenz und Unabhängigkeit von zentralen Institutionen. Bekannteste Anwendungen sind nach wie vor Kryptowährungen wie Bitcoin oder Ethereum. Bereits vor rund drei Jahren stellt sich nach dem Platzen der Spekulationsblase rund um die Kryptowährung Bitcoin Ernüchterung ein. Heute stehen der enorme Energieverbrauch, die zumeist eher zwielichtigen Akteur:innen sowie nach wie vor das Fehlen realer breiter Anwendungen einer Popularisierung im Weg.
Raider heißt jetzt Twix, Blockchain Web3
Da kommt ein Re-Branding gerade recht, wie derzeit zu beobachten ist: Blockchain heißt jetzt Web3. Der Begriff existiert zwar schon länger, erfreut sich aber derzeit, bedingt durch den Medienzirkus rund um digital signierte NFTs, eines Popularisierungsschubs. Als Web3 wird die Vorstellung einer neuen technologischen Iteration des World Wide Webs bezeichnet, die auf Blockchain-Technologie basiert.
Das 1991 von Tim Berners-Lee initiierte WWW, ein auf offenen Protokollen basierender Dienst im Internet – und das in der Rückschau als Web 1 genannt wird – bestand im Wesentlichen aus statischen Seiten, die nur lesbar waren, und Werbung spielte so gut wie keine Rolle. Mit dem sich ca. ab 2004 entwickelnden Web 2.0 – ein Begriff, der auf Tim O’Reilly zurückgeht – steht die Beteiligung der Nutzer:innen im Vordergrund. Digitale Plattformen und Social Media entstanden, die das Sammeln von Daten und deren Verkauf an Werbetreibende als Geschäft für sich entdeckten.
Bei der dritten Iteration Web3 werden alle zu Eigentümer:innen ihrer Daten bzw. Aktivitäten. Die Macht der Plattformen kann gebrochen werden – so jedenfalls das Versprechen der Befürwortenden dieser Entwicklung bzw. das herrschende Narrativ. Auch ins Web 1 und Web 2 wurden schon ähnliche Hoffnungen gesetzt, doch aus der Hoffnung auf einen egalitären Cyberspace als Hort demokratischen Austauschs wurde nichts. Die dezentralen Basistechnologien des WWW wurden zur Grundlage der digital-kapitalistischen Plattform-Ökonomie. Ähnlich ernüchternd sieht die Bilanz für Open-Source-Software aus, sie ist heute aus der digitalen Welt nicht mehr wegzudenken, perfekt integriert in die Aktivitäten aller Software-Firmen und Dienste-Anbieter.
Wiederholt sich bei Web 3 was schon mit anderen Technologien und ihren demokratisierenden Versprechungen geschehen ist? Dass die erhofften intrinsischen Eigenschaften sich letztlich gegen eine Demokratisierung wenden bzw. zu einer Optimierung und Weiterentwicklung von kapitalistischen Verhältnissen führen, und nicht zu mehr Transparenz und Offenheit?
Decentraland – das Land digitaler Milch und dezentralen Honigs
Um das Ganze zu illustrieren, werfen wir einen Blick auf das Projekt Decentraland, ein auf Ethereum basierendes Metaversum. Es geht auf ein 2015 von den beiden Blockchain-Entwicklern Ari Meilich und Esteban Ordano geschriebenes Konzept zurück. In der virtuellen Spielwelt können Benutzer:innen mit anderen kommunizieren, Spiele spielen und vor allem digitale Immobilien kaufen und verkaufen. Konzerte und Kunstaustellungen finden statt, zu deren Anlass NFTs feilgeboten werden. Die Macher beschreiben ihr Projekt folgendermaßen:
„Decentraland baut auf dem Konzept der digitalen Eigentumsrechte auf, um Benutzern die Möglichkeit zu geben, das gesamte Spielerlebnis ohne die Einschränkungen einer zentralisierten Partei zu verwalten. Das Projekt verwendet Smart Contracts und das Konzept der nicht fungiblen Token (NFT), um Knappheit zu generieren.“
Die erste Stadt „Genesis City“ ist schon im Werden. Eine Heatmap zeigt, wo die Immobilienpreise am höchsten bzw. die virtuelle Gentrifizierung am stärksten ist. Doch wie wird diese virtuelle Immobilien-Monopoly-Welt regiert? Dazu hat Decentraland die „Steuerung der Smart Contracts an eine dezentrale autonome Organisation (DAO)“ abgegeben. Eine DAO erlaubt die kollektive Verwaltung eines Metaversums. Stimmberechtigt sind alle, die sich über den Kauf von Tokens eingekauft haben. Demokratie in Decentraland geht so: „MANA [gibt] den Benutzern eine Stimme pro Token, während LAND den Benutzern 2.000 Stimmen pro Token […] gibt.“ Dass Großgrundbesitzer:innen mehr Stimmen haben als das gewöhnliche Fußvolk, leuchtet im Krypto-Universum unmittelbar ein. Ein Schuft, wer da etwa an das Dreiklassenwahlrecht in Preußen denkt! Krypto ist der Oberbegriff für eine Szene und Ideologie, die der libertären Ideologie des freien Marktes anhängt und für über digitale Technologien vermittelte und staatliche Intervention ablehnende Organisation der Ökonomie eintritt. Timothy May, Autor des Kryptoanarchistischen Manifests aus dem Jahr 1994, definiert es als die „Abwesenheit von Regierung“.
Ins Leben gerufen wurde dieses Metaversum von einer Firma aus der Real-Welt, die auf den Namen „Grayscale Investments“ hört und die Rechtsform einer LLC (etwa GmbH in den USA) hat, und sich das Copyright auf den Namen und sämtliche Implementierung gesichert hat. Spätestens hier geht die dezentrale Kryptorebellen-Haltung in Capitalism as usual über.
Sandkasten-Kapitalismus
Decentraland ist eine Art Sandkasten-Kapitalismus, eher Karikatur als ernsthafte Umsetzung einer sozialen Utopie. Die nonchalante Warenfixiertheit dieses virtuellen Monopolys, wo jede:r, der/die über genug „Land“ und „Mana“ verfügt, um sich als Immobilienhai betätigen zu können meint, verblüfft in ihrer Naivität. Das Ganze ist ist also eine Spielwiese wo alle mal so richtig Immobilienspekulation spielen können. Der utopische Finanzspielplatz für kryptoanachistische Rebellen ist nicht viel mehr als ein digitales Monopoly für Nerds. Diese Karikatur eines spekulativen Schneeballsystemspielwiese ist dabei kein Einzelfall. Die spanische Kritikerin der Digitalwirtschaft Marta Peirano betont:
„Historisch gesehen sind die meisten Anwendungen, die auf der Blockchain basieren, Finanzinstrumente, die darauf abzielen, Steuern zu hinterziehen und zu spekulieren.“
Mythos Dezentralisierung
Der Slogan vom Ausschluss der Mittelsmänner ist immer wieder zu hören und verleitet Linke dazu, die ganze Chose sympathisch zu finden – ein kapitales Missverständnis. Der kritische Informatiker und Wissenschaftler Rainer Rehak spricht von „In Technik gegossener Anti-Institutionalismus“. Denn die Krypto-Libertären seien überzeugt, jegliche Machtkonzentration schade mehr als dass sie nütze. Das Individuum könne und müsse sich mit technischen Werkzeugen, insbesondere kryptografischen, gegen die übergriffigen Institutionen wehren. Rehak fällt zudem auf, dass die Blockchain zwar technisch dezentral konzipiert ist, dabei aber über keinen internen Mechanismus verfügt, die anfängliche Dezentralisierung auch aufrechtzuerhalten. Der Grad der Zentralisierung ist vergleichbar oder sogar größer als der im konventionellen Bankensystem, er spricht daher vom „Recht der (Rechen-)Stärkeren“.
Der Mythos der Dezentralität ist dabei schon so alt wie das Internet. In den späten 1950er-Jahren beschloss Paul Baran von der Rand Corporation als Reaktion auf den sowjetischen Sputnik-Start ein Computernetzwerk zu schaffen, das unabhängig von zentralisierter Führung und Kontrolle sein sollte. Es sollte so einem nuklearen Angriff, der auf solche zentralisierten Hubs abzielte, Paroli bieten können. Seit jener Zeit hält sich hartnäckig der Mythos, dass dezentrale Infrastrukturen den Schluss erlaubten, auch deren Nutzung sei dezentral, un-hierarchisch, demokratisch und dergleichen. Der Trugschluss von der Topologie auf die politische Macht. Der Medienwissenschaftler Alexander Galloway schrieb bereits 2004 – und damit noch vor dem Aufblühen des Web 2.0 und der Erfindung der Blockchain – über diese notorische Vorstellung:
„Da neue Kommunikationstechnologien auf der Abschaffung zentralisierter Befehle und hierarchischer Kontrolle beruhten, folge daraus, dass die Welt Zeuge eines allgemeinen Verschwindens der Kontrolle als solcher wird. Weit gefehlt.“
Auch bei der Blockchain haben die üblichen Verdächtigen das Heft in die Hand genommen, allen voran die Finanzindustrie selbst, aber auch Handels- und Logistikkonzerne. Ein groß angelegter Versuch aus der jüngsten Vergangenheit, die Finanzwirtschaft auszubooten, Notenbanken zu umgehen und das staatliche Währungsmonopol zu brechen, kommt ausgerechnet von Facebook bzw. jetzt ja Meta: Bei Libra – einer Mischung aus Krypto-Währung und Bezahlsystem – bleibt vom Ideal direkter Transaktionen und Kontrakte zwischen Gleichen nicht viel übrig: Ein Riese des Plattformkapitalismus setzt Standards in seinem proprietären Ökosystem. Zitat Jeraldine Juarez im Interview:
„Ohne Zweifel sind Kryptowährungen meiner Meinung nach ein konservatives rechtsgerichtetes Projekt und sind dem Prozess der Aneignung, Transformation und Expansion des Kapitals zu Diensten.“
Und der Miterfinder der Kryptowährung Dogecoin Jackson Palmer beschrieb Kryptowährungen als eine
„von Natur aus rechte, hyperkapitalistische Technologie, die in erster Linie entwickelt wurde, um den Reichtum ihrer Befürworter durch eine Kombination aus Steuervermeidung, verminderter behördlicher Aufsicht und künstlich erzwungener Knappheit zu vermehren.“
Mythos Nutzer-Empowerment
Der zweite Trugschluss im Kontext von Web 3 ist das Verwechseln von Empowerment der Nutzerinnen und Nutzer mit deren umfassender Finanzialisierung. Wie bei Decentraland deutlich wird, geht es um die autonome Organisation von digitalem Besitz von Gütern. Die Nutzerinnen und Nutzer sind ausschließlich als bourgeoise Digitaleigentümer darin überhaupt existent. Somit gehört Web3 zu den Versuchen des Kapitals, immer wieder neue an veränderte Produktionsverhältnisse angepasste rechtliche Titel und Mechanismen zu entwickeln, die seine Macht auf Dauer sichern. Wie Katharina Pistor in ihrem lesenswerten Buch über die Geschichte dieser Sicherung schreibt:
„Nicht der Vermögenswert selbst, sondern seine rechtliche Kodierung schützt den Vermögensinhaber vor dem Gegenwind gewöhnlicher Konjunkturzyklen und verleiht seinem Vermögen Langlebigkeit, wodurch die Voraussetzungen für anhaltende Ungleichheit geschaffen werden.“
Es handelt sich um Versuche des Kapitals, Besitztitel auch in neuen digitalen Settings zu sichern und zu definieren, die Grenze des vom Recht abgesicherten Privatbesitzes möglichst auszudehnen auf Pixel, Bits und Bytes, ja auf jede Lebensäußerung. Damit reiht sich Web3 in die alte Geschichte des Kapitals ein, immer neue Horizonte – auf der Erde, im Weltall und vor allem im „Cyberspace“ – für sich zu erobern.