User Generated Capitalism: Social Media und das Facebook-ProletariatUnderstanding Digital Capitalism | Teil 11
27.7.2015 • Gesellschaft – Text: Timo Daum, Illustrationen: Susann MassuteDigitale Plattformen sind inhaltsleere Strukturen, leblose Formen – die User sind es, die sie mit Inhalten füllen und so erst zum Leben erwecken. Facebook, Twitter oder YouTube produzieren keine Profile, Links, Posts oder Likes, sie stellen keine Fotos oder Videos zur Verfügung. Das unterscheidet sie von klassischen Medienunternehmen.
Die User füttern ein System, das es ohne ihre Aktivität und ihre Daten gar nicht gäbe, haben aber kein Mitbestimmungsrecht über dessen Form und keine Kenntnisse über dessen Struktur. Die Such-Algorithmen von Google sind geheim, Details um die Gewinnung und Verwertung von User-Daten werden gehütet wie Staatsgeheimnisse. Für die Plattformen und ihre Werbekunden ist allein die Quantität der generierten Daten entscheidend, das Gold der Digitalen Ökonomie bemisst sich nur nach der Menge: je mehr, desto besser. Welchen Content die User produzieren ist vom Standpunkt der Plattform völlig egal. Wahr oder falsch, banal oder kurios – benötigt werden Daten sans phrase, Informationen als rein statistische oder Wahrscheinlichkeitsgrößen, wie sie Claude Shannon positivistisch definiert hat.
Ist es mit dem Kapitalismus nicht ähnlich? Er wird ja erst zum Leben erweckt durch unser Handeln, durch unsere Betätigung innerhalb einer gegebenen Form: Wir schaffen die Strukturen, die durch unser Handeln (Arbeiten gehen, Geld verdienen, Rechnungen bezahlen) Realität werden und uns „hinter unserem Rücken“ beherrschen. Der Kapitalismus ist keine fremde, uns knechtende Macht: Wir selbst sind der Kapitalismus.
Dem Inhalt, also was konkret produziert wird, steht der Kapitalismus ebenso indifferent gegenüber, Hauptsache, es nimmt die Form von Waren an, die auf dem Markt einen Preis erzielen – und davon möglichst viel.
##Fetischismus und Social Media
Wir selbst schaffen die Abstraktionen, von denen wir uns beherrschen lassen. Karl Marx hat dieses Phänomen als Fetischismus der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet. Ein Fetisch ist eine vom Menschen geschaffene Sache, ein Objekt, von dem ebendiese Menschen glauben, dass es Macht über sie habe.
„So leben die Agenten der kapitalistischen Produktion in einer verzauberten Welt, und ihre eigenen Bedingungen erscheinen ihnen als Eigenschaften der Dinge, der stofflichen Elemente der Produktion.“ (Karl Marx)
Diesen religiösen Mechanismus, den man aus „primitiven Gesellschaften“ kennt, sieht Marx also im Herzen des Kapitalismus am Werk. Auch im Digitalen Kapitalismus tritt das offen zutage – wir lassen uns von Strukturen beherrschen, die wir selbst durch unser Handeln erzeugen: user generated capitalism.
Eine weitere Parallele zwischen kapitalistischer Vergesellschaftung und der Funktionsweise sozialer Plattformen tritt zutage: Das Handeln in einer vorgegebenen Struktur (Kapitalismus/Facebook) führt dazu, dass diese zementiert und nicht mehr hinterfragt wird. Ihre Kontingenz (nach Niklas Luhmann die Möglichkeit, dass etwas Gegebenes auch anders möglich ist) gerät aus dem Blickfeld: „Es gibt keine Alternative" (A. Merkel). Gesellschaftliche Veränderungen werden undenkbar, das Design existierender Plattformen wird identisch mit der Vorstellung von social media überhaupt – another world is NOT possible!
##Das Facebook-Proletariat oder das Verschwinden des Mehrwerts
Wer sind heute die Arbeiter des Digitalen Kapitalismus? Allein die Beschäftigten von Google & Co.? Oder vielmehr die User der Plattformen, die Daten produzieren? Wo wird Mehrwert produziert, wer wird ausgebeutet? Marx’ Verdienst war es ja, den Ausbeutungsbegriff von einer moralischen zu einer ökonomischen (quantitativen) Kategorie zu wenden: Der Kapitalist behält einen Teil des geschaffenen Werts, den Mehrwert, für sich.
Die Arbeit vergegenständlicht sich im Arbeitsprodukt und ist Quelle des Mehrwerts, dieser wird beim Verkauf der einzelnen Ware realisiert. Sobald wir die Domäne der industriellen Produktion von Waren verlassen, wird es komplizierter. Es gibt immer mehr Hilfstätigkeiten wie Transport, Werbung etc., die nicht unmittelbar wertproduktiv sind – heute arbeiten über 70% im immateriellen Sektor.
Im Zeitalter digitaler Informationen wird es noch schwieriger, den Mehrwert zu berechnen. Wenn ohne Arbeitsaufwand beliebig vervielfältigt werden kann, in einer Stunde also einer oder auch tausend „digitale Stühle“ produziert werden können, macht die Rechnung keinen Sinn mehr. Erst recht nicht wenn das Erzeugen digitaler Kopien durch Netzwerke automatisch stattfinden und auf eine öffentliche Infrastruktur ausgelagert sind.
Vollends sinnlos wird es beim Plattform-Kapitalismus: Wenn Unternehmen mit einer Hand voll Beschäftigten und automatisierter Infrastruktur Milliarden-Profite erzielen, kommt nur noch eine Mehrwert-Singularität heraus: geteilt durch NULL. Unternehmensgewinne durch die Anzahl der Beschäftigten zu teilen, bringt wenig Erkenntnis, zumal die Gewinne stark schwanken, sogar negativ sein können.
##Geld verdienen mit Bits und Bytes oder: Shouldn't we get paid?
Auf der Suche nach einer Einkommensquelle für die informationellen Mittelschichten der Zukunft hat sich Jaron Lanier ein Micro-Payment-System für Online-Aktivitäten ausgedacht. In Deutschland hat Tilmann Baumgärtel die Idee aufgegriffen und in der TAZ eine Art Gema für Posts, Likes und Tweets angeregt:
„Facebook soll zahlen. […] Eine Art Gema müsste diese Gelder verwalten, die ich Daten-Tantiemen nennen will. Die würde die Gewinne, die die datensammelnde Industrie weltweit jährlich erwirtschaftet, verrechnen mit meinem Beitrag zu deren Datenbanken: je nach Zahl meiner Instagramme, Foursquare-Logins oder Tumblr-Postings bekäme ich einmal im Jahr einen Scheck samt Abrechnung.“
Auch Lanier und Baumgärtel machen eine einfache Rechnung auf – Wert des Facebook-Profils geteilt durch Anzahl der Posts = Wert eines Posts. Die Versuche, sämtliche digitale Betätigung in einzelne Quanta gesellschaftlich notwendiger Arbeit zu teilen, erinnern an Frederick Taylors Bemühungen, den industriellen Arbeitsprozess in atomare Schritte zu zerlegen und so zu optimieren. Genau darin sind die Plattformen selbst Meister: Der Versuch, immer genauer Einzelbetätigungen zu messen und zu bewerten – click per view, pay per click, cost per click – liegen im Kern des E-Business. Seit 2006 können echte Menschen auf der Amazon-Plattform Mechanical Turk „Human Intelligence Tasks“ (HIT) verrichten. So heißen die Aufgaben, für die noch „echte Menschen“ benötigt werden: Bilder sichten, Übersetzungen überprüfen, Fotos beschriften etc. Eine halbe Million Klickarbeiter hat sich auf der Website registriert. Diese Online-Selbständigen sogenannten Turker, die in kleinste Arbeitsschritte zerlegte Arbeiten verrichten, werden tatsächlich mit Mikro-Payments vergütet.
##Gerecht geht es nicht zu
Ferdinand Lassalle, einer der Gründerväter der Sozialdemokratie, forderte einst den gerechten Lohn für die Proletarier des 19. Jahrhunderts und wollte ansonsten die Verhältnisse unangetastet lassen. Karl Marx hat das stets als Illusion gegeißelt und gezeigt, dass es so etwas im Kapitalismus nicht geben kann. Jaron Lanier und andere sind auch im 21. Jahrhundert wieder auf der Suche nach gerechter Bezahlung für die Informationsarbeiter der Mittelschichten, die von den Geschäftsmodellen des Silicon Valley ins Prekariat abgedrängt werden. Die Angst davor, nicht mehr auf dem neusten Stand zu sein, gar durch Algorithmen ersetzt zu werden, verwandeln dem französische Soziologe Alain Ehrenberg zufolge den Arbeitsplatz in ein „Das Vorzimmer der nervösen Depression“.
Liegt da nicht die Alternative auf der Hand, den Mechanismus der Arbeitswert-Messung überhaupt in Frage zu stellen – sowohl bei abhängig Beschäftigten, Freelancern, Schachtürken als auch bei den Usern? Wer an welcher Stelle wie wertproduktiv ist bzw. ausgebeutet wird und – daraus abgeleitet – Vergütung erhalten soll: Wollen wir das so genau wissen?
Beim späten Marx findet sich der Gedanke, dass die Wertschöpfung immer weniger von der Menge konkret angewandter Arbeit abhängen wird. Stattdessen prognostiziert er eine Entwicklung, in der „das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter Kontrolle des general intellect gekommen sind.“
Die Anwendung verallgemeinerten Wissens (general intellect) wird zum entscheidenden Faktor der Wissens-Ökonomie. Es scheint, als erlebten wir diese Entwicklung heute, allerdings mit dem verstörenden Paradox einer sich trotz universell verfügbarer Information perpetuierenden kapitalistischen Form.
Quellen/Links
David McNally, Another World Is Possible: Globalization and Anti-Capitalism, Winnipeg, 2006
K. Marx, Theorien über den Mehrwert III, MEW 26.3, 503.
Geert Lovink and Miriam Rasch (Hrsg), Unlike Us Reader: Social Media Monopolies and Their Alternatives, Amsterdam, 2013.
Florian Cramer, Virtuelle Realität. Der Friedenspreis für Jaron Lanier – und die Missverständnisse, auf denen er beruht
Tilman Baumgärtel, Facebook soll zahlen, taz, 01.02.2014
K. Marx, Grundrisse, MEW Bd. 42, S. 602
Mercedes Bunz, Die stille Revolution, Berlin, 2012
Christiane Benner (Hrsg.), Crowdwork – zurück in die Zukunft? Perspektiven digitaler Arbeit, Frankfurt a.M, 2014
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