Sach- und Fachgeschichten, heute: mit Teresa Bückers „Alle_Zeit“Wie wir mit we-time statt me-time zu mehr Zeitgerechtigkeit gelangen

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Es gibt unzählige Bücher über persönliche Zeitoptimierung, doch Vorschläge für eine gesellschaftlich gerechtere Verteilung gibt es wesentlich seltener. Wie ungleich Zeit verteilt ist, wie falsch wir „Arbeit“ und „freie“ Zeit handhaben und wie wir das ändern können, darüber schreibt die Berliner Journalistin Teresa Bücker. Jan-Peter Wulf stellt ihr Buch vor.

Auf meinem Schreibtisch im Büro steht eine quadratische Filzbox. Sie ist über die Jahre ein Lager von Dingen geworden, die ich gelegentlich bis nie benötige. Eigentlich aber war sie mal als eine Inbox gedacht gewesen: Der physische Ort, in den alles (Physische) gepackt wird, was ich bearbeiten muss. Hat ungefähr von Minute eins an nicht funktioniert. Die Idee mit der Inbox stammt von David Allen, dem Zeitmanagement- und Getting-things-done-Guru schlechthin. Den fand ich mal total toll. Es gibt viele Allens in dieser Welt, und ihr Blick auf Zeit ist im Prinzip immer der gleiche: Meine knappe Ressource, hier ist wie du besser mit ihr umgehst und wie du deswegen strukturierter, erfolgreicher, glücklicher wirst. Wirtschaftlich betrachtet ein mikroökonomischer (auf die „Ich-AG“ abzielender) und neoliberaler Ansatz, Zeit zu optimieren.

We-time statt me-time

Teresa Bückers Buch „Alle_Zeit“ nähert sich dem Thema Zeitorganisation stattdessen auf eine quasi-makroökomische Art, die Autorin betrachtet Zeit gesellschaftlich. Eine bessere, gerechtere Zeit für uns alle ist keine Frage des me, sondern des we. Doch warum ist Zeit so ungleich und ungerecht unter den Menschen verteilt? Warum haben viele erst im letzten Drittel ihres Lebens so etwas wie freie Zeit? Warum haben wir es immer noch nicht geschafft, trotz gestiegener Produktivität weniger zu arbeiten?

Zeit ist gesellschaftlich zwar sehr ungleich verteilt, so Bücker – ähnlich wie das Vermögen. Wer alleine erzieht, wer lange Wege pendeln muss, hat zwangsläufig weniger davon. Anders als Geldknappheit gilt Zeitknappheit, sprich busy zu sein, aber auch als erstrebenswert, zumindest in höhergestellten Berufen, wo es den gesellschaftlichen Status („ist eine sehr beschäftigte Person“) mitdefiniert, wohingegen es in sogenannten niedrigen Berufen in der Regel keinen persönlichen Vorteil bringt – hier ist Bücker, ohne es explizit zu benennen, dicht an der Bullshit-Jobs-Debatte von David Graeber dran: Was ist eigentlich ein Beruf mit (gesellschaftlichem) Wert?

Auf eine der zentralen Fragen, die die Autorin stellt, muss man erst einmal kommen: Wie beeinflusst der Umgang mit unserer eigenen Zeit das Leben anderer? Welche Auswirkungen hat es eigentlich für Angehörige, typischerweise die Familie, die für die Karriere zurückstehen muss? Aber auch für die Putzkraft, den Pflegedienst, den Babysitter bis hin zu Menschen, die wir gar nicht treffen, die aber mit der Art, wie sie arbeiten und ihre Zeit aufwenden (müssen), es uns erst ermöglichen, unsere Zeit so zu nutzen, wie wir es tun?

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Alle_Zeit Eine Frage von Macht und Freiheit von Teresa Bücker ist bei Ullstein erschienen, hat 400 Seiten und kostet 21,99 Euro Affiliate-Link

Hier steigt Teresa Bücker nun tief ein in die Analyse: Zeit „leidet“ in unserer Gesellschaft an allen Ecken und Enden. Sei es die Elternzeit, in der die Erziehenden oft wenig soziale Kontakte zu anderen Erwachsenen pflegen können. Sei es die nicht als Arbeit anerkannt und honorierte Care-Arbeit allgemein. Sei es die zumal nach Corona viel häufiger gewordene Arbeit zu Hause, die nachweislich nicht zu weniger, sondern zu mehr Arbeitsstunden geführt hat. Plus eine nachrangige Behandlung Schutzbedürftiger, wir alle kennen die Stockfotos mit Kindern, die neben dem Corona-Schreibtisch der Eltern um Aufmerksamkeit betteln. Oder sei es die gestiegene Arbeitsintensität: Pro Zeiteinheit wächst die Menge der Aufgaben, statt produktivitäts- und technikfortschrittsbedingt zu sinken. Was mehr Überstunden, weniger Pausen und natürlich Stress bewirkt.

Weg mit dem Zeitkonfetti

Zu einer gerechten Zeitkultur können wir nur gelangen, so Bücker, indem wir unsere zeitlichen Beziehungen entflechten und Lösungen finden, die für viele funktionieren. Die strukturelle Diskriminierung muss analysiert (auch intersektional) und beendet werden. Alle Formen des Arbeitens gehören bezahlt. Care-Arbeit darf nicht mehr billig outgesourct, sondern muss professionalisiert (vulgo vernünftig bezahlt) und internalisierbar werden – von den Angehörigen nach Möglichkeit also auch selbst durchgeführt, honoriert und so mit anderen Aufgaben und Bedürfnissen vereinbar, dass am Ende eben nicht Isolation, Burnout oder Mittellosigkeit stehen. Männer müssen mehr Care-Arbeit übernehmen, 2017 leisteten sie täglich 87 Minuten weniger als Frauen, Stichwort „caring masculinities“. Und: Freie Zeit muss defragmentiert werden. Weg vom „Zeitkonfetti“, wie Bücker es nennt, hin zu längeren, zusammenhängenden Zeiteinheiten, die Selbstbestimmung oder Selbstentfaltung erst ermöglichen – vom Ausgehen mit Freund:innen bis zur gesellschaftlichen Partizipation, vom wöchentlichen Termin bis zu zivilgesellschaftlichen Sabbaticals.

Wir müssen ja sowieso weniger arbeiten

Ein Ding der Unmöglichkeit ist das alles nicht. Alles was wir wollen können wir uns leisten, sagte Keynes. Und er prognostizierte, dass wir alle 2030 nur noch 15 Stunden arbeiten müssen, um gut leben zu können. Dass wir davon denkbar weit entfernt sind, haben wir uns selbst zuzuschreiben. Aber wir können es ändern. Wir müssen es ja sogar, wie uns Ulrike Herrmann erklärt: Um die Klimakatastrophe abzuschwächen, ist Schrumpfen angesagt. Und das geht nur durch weniger Produktion und Emission. Ein existentieller Grund, Zeit neu zu gestalten.

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