Sach- und Fachgeschichten, heute: mit Harald Welzer und Richard David Prechts „Die vierte Gewalt“Von Mehrheitsmeinung, Gruppendenken und Leitmedien
13.10.2022 • Gesellschaft – Text: Jan-Peter WulfIn seiner neuen Kolumne rezensiert und reflektiert Jan-Peter Wulf aktuelle oder ältere Sachbücher und andere Formate. Los geht es mit dem Buchaufreger der Stunde: „Die vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist“ von Harald Welzer und Richard David Precht.
Es ist zugegebenermaßen nicht so einfach, eine Rezension über ein Buch zu schreiben, um das es schon so eine Debatte gegeben hat wie um dieses. Late to the party? Vielleicht, vielleicht geht oder ging das Ganze einfach auch viel zu schnell vonstatten. Es ist ja überhaupt ein Trend geworden, Themen zu versachbuchen, wenn sie gerade noch mitten im Gange sind: Mitten in Corona waren die Corona-Bücher (eines haben wir hier vorgestellt) überall ganz vorne in den Buchhandlungen, schon jetzt wird der Krieg in der Ukraine historisiert und über den Machtverlust der Union, schrieb der Journalist Robin Alexander (der in diesem Buch mehrfach eine Rolle spielt), als er gerade passierte. Die spät ihre Erkenntnis erfliegende Eule der Minerva scheint immer mehr zum Geier Sturzflug zu werden. Warum? Ist doch klar: Wenn ein Thema gerade auf der Agenda ist, dann verkauft sich eine Analyse des Themas eben auch gut.
Dass Welzer und Precht ihre, ja was eigentlich, nennen wir es populäre Medienkritik, just in diesem Moment veröffentlichen, kommt daher sicher nicht von ungefähr: Beide sind wegen ihrer streitbaren (das ist hier neutral bzw. ergebnisoffenen gemeint) Thesen medial zurzeit hochpräsent und auf der Agenda, und die Kritik an ihren Äußerungen – womöglich auch an ihrer Person – haben sie augenscheinlich zum Anlass genommen, eine generelle Kritik am Verhältnis von Regierung, Medien und Öffentlichkeit zu verfassen. Bevor wir zu dieser Kritik kommen, halten wir nur kurz fest: Die beiden sind Medienprofis. Sie wollen auch ein Buch verkaufen, denn damit kann man gar nicht mal so wenig Geld verdienen. Und die damit einhergehende Medienpräsenz kommt noch on top. Das sollte man zumindest im Hinterkopf haben, wenn man „Die Vierte Gewalt“ liest.
Natürlich sind die beiden auch Analytiker, und wie ich finde normalerweise ganz gute. Ob man ihren Stil mag, sie eitel findet oder nicht – geschenkt. Den Thesen, die sie in diesem Buch vertreten, sein Auge bzw. Gehör zu schenken, lohnt sich. Denn sie haben im Wesentlichen zwei Punkte. Erstens: Dass öffentliche und veröffentlichte Meinung auseinander klaffen und dies immer mehr, da ist absolut etwas dran. Dass damit ein Vertrauensverlust einhergeht, auch. Dass es eine Unzufriedenheit, Skepsis, Ablehnung im Lande gibt mit den „amtierenden“ Medien, wie sie es nennen, dazu gibt es Zahlen. Dass sie das thematisieren, ist gut und wichtig. Wenngleich die Erkenntnis innerhalb der Medienwissenschaft beileibe keine neue ist und die Sachlage durchaus komplexer ist, als der Philosoph und der Soziologe, die sich mit Komplexität bestens auskennen, schildern. Rezeptionsmodelle von der Frankfurter Schule über den Poststrukturalismus bis zu den Cultural Studies dürften den beiden zumindest bekannt sein, allein Luhmann mit seiner Realität der Massenmedien wird an einer Stelle einmal kurz aufgefahren.
Da tritt bei den Autoren wiederum die „Medienprofessionalität“ hervor: Reduzieren wir die Komplexität, indem wir sie weitestgehend weglassen (sie haben auch angekündigt, die Empirie bald nachzuliefern). Verkaufen wir unser Buch lieber schon jetzt. Luhmann spricht in seiner Medientheorie von einem „blinden Fleck“: Der Beobachter kann sein eigenes Beobachten nicht beobachten.
Aber Welzer und Precht sind viel zu klug, um nicht zu wissen, dass sie mit ihrer Zwitterrolle als Analytiker und Akteure einen ziemlichen Spagat hinlegen, schon allein deswegen ging ihr Auftritt bei Prechts Duzfreund und Podcast-Kollegen Markus Lanz in die Hose.
Die zweite große These ihres Buches ist, dass sich Politik und Medien einander angleichen. Nicht im Sinne einer Manipulation der Medien alter Schule durch den Staat, sondern eher umgekehrt: Die Politik und die Art und Weise, wie Politiker:innen sich öffentlich inszenieren, werde immer medialer. Medien werden selbst zu Akteuren des Politischen. Einher damit geht, dass die Selbstkontrolle der „vierten Gewalt“, wie die Medien bzw. ihre kritische, einordnende Rolle auch genannt wird, sich zu einer exekutiveren hin verändert. Sie nennen es „Cursor-Journalismus“, wenn dann alle Medien der aktuellen Stimmung folgen, ja eine Beute wittern, und dieser hinterher hetzen – bis sich der Wind dreht oder ein neues Reh auf der Lichtung steht.
Hier wird, was im Buch eher zu wenig passiert, einmal eine Theorie zur Unterfütterung eingebracht: Gruppendenken. „Kompetente Personen treffen dabei schlechtere oder realitätsfernere Entscheidungen, weil jede ihre Meinung an die erwartete Gruppenmeinung anpasst. Daraus können Situationen entstehen, bei denen die Gruppe Handlungen oder Kompromissen zustimmt, die jedes einzelne Gruppenmitglied unter anderen Umständen ablehnen würde.“ Spannend. Ihre Selbstkontrolle versage schließlich immer mehr, attestieren die Autoren, und wer kontrolliert die Medien dann?
Kurz: Medien machen selbst Politik, populistische Politik. Und das sei nicht gut, so Welzer und Precht. Auch damit haben sie erstmal recht. Wenn ein Feuilletonchef von einer Verteidigungsministerin einfordert, das Wort „Krieg“ zu benutzen, oder ein Kanzler „gewinnen“ sagen „muss“, dann ist das in der Tat ein Problem losgelöst von Akteuren, Sachverhalt, politischer Haltung – das ist ein funktionales Problem. Dass Medienkritik heuer immer mehr gegen die Person geht statt gegen die Meinung, kommt noch hinzu – der Historikerstreit sei hart gewesen, aber fair und „unpersönlich“, so die Autoren. Heute seien Tweets gegen die Person und Shitstorms, immer persönlich, schnell unsachlich, der Nukleus der Kommunikation.
Wohl wahr. An dieser Stelle ist aber leider wieder der Geier im Sturzflug. In dem Tempo, in dem die beiden ihre Publikation rausgeschoben haben, haben sie es weitestgehend unterlassen, eine wirklich gute Medienbeschreibung und -differenzierung abzuliefern. Sie sprechen von Leitmedien und Direktmedien. In den Leitmedien setzen wenige Protagonist:innen die politische Agenda – wie Robin Alexander, der sich dann auch bei Lanz sowie in seinem eigenen Podcast (in dem er sich nicht zu schade ist, sich über eine mögliche Abwahl der Linken bei einer erneuten Senatswahl zu freuen, der Journalist) ziemlich angefressen gezeigt hat. In den Direktmedien, die Autoren beißen sich vor allem an Twitter fest, können alle brüllen, was sie wollen. Auch hier gäbe es 50 Schattierungen von Grau zu beschreiben. Allein dass sie bei den Leitmedien die Öffentlich-Rechtlichen in ihrer Staatsferne, zu denen sie verpflichtet sind, nicht eigens aufgefächert werden, ist mehr als ein Lapsus. Wenn sie am Ende des Buches einen europäisches öffentlich-rechtliches Mediensystem wünschen, auch diese Idee ist keine neue (aber eine schöne), dann fragt man sich, wie sie nach ihrer teils rüden Kritik an „den Medien“, die sie gar als „vierte Gewalttäter“ benennen, echt jetzt, überhaupt dort hingekommen sind.
Ohnehin fällt der Schluss denkbar kurz aus: Von einem Autoren wie Welzer, der mit „Alles könnte anders sein“ ein ganzes Buch darüber verfasst hat, wie alles anders sein könnte, darf man diese Leistung schon erwarten.
Man müsse einmal mehr Werk und Autor trennen, schlagen Wolfgang M. Schmitt und Stefan Schulz in ihrem Podcast Die Neuen Zwanziger vor (in dem sie eine sehr gute zweistündige Audio-Rezension des Buchs vorgenommen haben). Am besten eine Talkrunde machen, aber ohne Welzer und Precht. Finde ich gut, aber gerne erst in zwei Jahren, wenn Cursor und Co. schon wieder ganz woanders hinpeilen. Die Medienwissenschaft hat sich schon in der Vergangenheit mit dieser Thematik beschäftigt, sie tut es auch jetzt und wird es auch in Zukunft weiter tun. Und bietet immer hinreichend Empirie und Denkmodelle, um sich ihr, entschleunigt und sachlich, zu nähern.