Sach- und Fachgeschichten, heute: mit Dirk Oschmanns „Der Osten“Ossientalism

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Während in so ziemlich jedem gesellschaftlichen Bereich die Strukturen gruppenbezogener Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit identifiziert, problematisiert und zumindest in Ansätzen aufgebrochen werden, lautet das Motto „im Westen nichts Neues“, wenn es um den Blick auf die Mitbürger:innen in den fünf östlichen und gar nicht mehr so neuen Bundesländern geht. Fast 35 Jahre nach Mauerfall und sogenannter Wiedervereinigung steht immer noch ein gläserner Vorhang, wo sich einst ein eiserner befand. Dirk Oschmann hat dagegen eine Streitschrift geschrieben, Jan-Peter Wulf stellt sie vor.

Ist das hier überhaupt eine Sach- und Fachgeschichte? Gewissermaßen ist „Der Osten“ von Dirk Oschmann ein category killer, denn, und das macht der Autor auch immer wieder klar im Verlauf seines Buches, es geht ihm nicht um eine nüchterne, empirische Analyse seines Sujets. Er ist mächtig angepisst, und damit hält er auch nicht hinterm Berg: How dare you, Westdeutschland? Wie kann es sein, dass im vierten Jahrzehnt nach dem Beitritt der Ex-DDR zur BRD noch derartige Zuschreibungen, er nennt es gar Zurichtungen der Menschen, die in den östlichen Bundesländern leben, mehr oder minder unhinterfragt erfolgen können? Zuschreibungen, die reale – mitunter miserable – Lebenssituationen prägen? Wenn wir so weitermachen, werden wir in große Probleme hineinschlittern, ist sich der Literaturwissenschaftler (in der DDR geboren, dozierte längere Zeit in den USA, heute Professor für neue deutsche Literatur an der Uni Leipzig) sicher.

Womit weitermachen? Mit der westlichen Ignoranz bezüglich der Tatsache etwa, dass es zwei deutsche Geschichten gibt, die sich beide auf das „neue“ Deutschland nach 1990 auswirken (inklusive der Negation, dass es auch eine DDR-Literaturgeschichte gibt, sie werde heute extrem marginalisiert, so Oschmann). Mit der Diskriminierung: weiterhin niedrigere Löhne, obschon die Kosten dieselben sind und, wer weiß das schon, es nirgends in Europa so wenig Immobilienbesitz bzw. Grundbesitz gibt wie in den östlichen Bundesländern – Vermögen ist hier höchst selten. Mit der demokratischen Selbstvergessenheit: Die Bürger:innen der DDR haben sich ihre Demokratie erkämpft, dem Westen wurde sie von den Alliierten geschenkt, inklusive Re-Education-Programm, während in der östlichen Besatzungszone hohe Reparationszahlungen an die UdSSR den Wiederaufbau mühselig machten.

Alles ist vergiftet

Oschmann attestiert dem Westen Geschichtsvergessenheit und Präsentismus. Und bevor man sich mit Whataboutism oder anderen Strategien dagegen zur Wehr setzen will: einfach mal wirken lassen und weiterlesen. „Osten“ als Begriff, als Kollektivsymbol, ist komplett kontaminiert, vergiftet, kaputt, liest man da. Aus dem „Osten“ zu kommen vermindert, und das ist evident, Karrierechancen (Vorständ:innen, Top-Akademiker:innen aus den östlichen Bundesländern sind unterproportional bis selten). Eine Angela Merkel habe nicht ohne Grund ihre Ost-Biografie erst zum Ende der politischen Karriere (oder im Ausland) thematisiert. Symbolisches Kapital kann nur mit dem Symbol West aufgebaut werden, während Ost geradezu pejorativ ist. „Osten ist keine Himmelsrichtung, sondern ein Urteil“, schreibt Oschmann. Immer wieder ertappt der rezensierende Wessi sich während des Lesens, dass er, trotz langer Familiengeschichte in beiden Ländern, vieles nicht weiß, nie davon gehört hat. Oder wusstet ihr, dass „Aufbau Ost“ ein Begriff aus der megalomanischen Lebensraumplanung des sogenannten „Dritten Reichs“ ist? Der Trivalname für die Sonderbezüge westdeutscher Beamter, die in den Osten gingen, die „Buschzulage“ genannt, auf die unrühmlichen Kolonialzeiten zurückgeht?

Und damit ist er, wenngleich er selbst diese Analogie nicht aufführt, spannender Weise dicht dran an dem, was seit den späten 1970er-Jahren mit dem Begriff „Orientalism“ vollzogen wird: Nämlich der Darlegung, dass es einen bestimmenden, mythsierenden, diffamierenden, wie gesagt zurichtenden Blick des deutschen Westens auf den deutschen Osten gibt, so wie es dereinst einen solchen Blick des Okzidents auf den Orient, sprich die arabische Welt gab oder gibt. Es hat gut und gerne 30 Jahre gedauert, bis die kritische Auseinandersetzung damit, etwa durch die „postcolonial studies“, in Deutschland angekommen sind, auch das kann man als geschichtsvergessen bezeichnen.

Die Wirklichkeit ist das Skandalon

Weiterhin nicht so hip scheint es indes zu sein, den Blick auf das eigene Land und das „innere Othering“ zu richten. Jedenfalls kann auch Oschmann kein Beispiel für ein Projekt nennen, das dieses täte. Es herrscht Desinteresse, mindestens. Die mediale Berichterstattung falle, so Oschmann, schon deswegen tendenziös aus, weil die Verlage fast komplett in westdeutscher Hand sind. Ja, aber der Rassismus im Osten? Den negiert der Autor nicht, dafür ist er viel zu klug, weist aber darauf hin, dass er sich auch auf von sich im Osten breit machenden West-Nazis zurück führen lässt, und die komplette AfD-Spitze: Wessis. Höcke kommt aus Lünen, viele Faschisten aus Dortmund. Ziemlich tief im Westen. Die teils harsche Kritik, die Oschmann erntete, als er den FAZ-Artikel schrieb, auf dem dieses Buch fußt, winkt er ab: „Die Wirklichkeit ist das Skandalon, nicht mein Ton.“ Es ist halt eine Streit-, wenn nicht gar eine Kampfschrift. Was fordert er? Ein also differenzierteres Sprechen über den Osten, den Westen, Deutschland? Das reiche nicht, weil es die unterschiedlichen konstituierenden Bedingungen negieren würde. Wer ökonomisch wie diskursiv subaltern ist, kann, das wissen die Pocos doch, gar nicht wirklich sprechen. Erstmal gleiche Löhne und gleiche Renten. Level playing field. Dann sehen – und diskutieren – wir weiter.

Der Osten: eine westdeutsche Erfindung von Dirk Oschmann ist 2023 bei Ullstein erschienen, hat 224 Seiten und kostet 19,99 Euro.

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