Messen und herrschenUnderstanding Digital Capitalism IV | Teil 7
20.1.2020 • Gesellschaft – Text: Timo Daum, Illustration: Susann MassuteDie Aufteilung in kleine Arbeitshäppchen ist charakteristisch für agile Methoden – ohne die Unterstützung durch Software für das Tracking des digitalen Workflows wäre das nicht realisierbar. In diesem Teil von „Understanding Digital Capitalism“ löst sich die Arbeiterklasse im Netzwerk auf, erkennt die Bundeswehr ein Zeichen der Zeit und outen sich Amazon-Angestellte als Roboter. Schuld an allem ist mal wieder die Apple Watch. Frederick Taylor hätte seine Freude gehabt an unseren (zwangs)optimierten Zeiten.
In der letzten Folge UDC ging es um das „unbossing“, das „Verschwinden“ des Chefs/der Chefin in agilen Arbeitsumgebungen. Sie werden dabei zum Coach, ihre ursprünglichen Funktionen werden vom Team übernommen, das sich fortan selbst steuert – „innere Führung“ könnte man das nennen. Erfunden hat den Slogan allerdings die Bundeswehr, die übrigens derzeit auch beim agilen Trend nicht hinterherlaufen will, sondern vorne mit dabei ist. So klingt der agile Sound der Bundeswehr:
„Führen unter den Bedingungen von Digitalisierung, Vernetzung, Individualisierung und Globalisierung erfordert darüber hinaus eine hohe Beweglichkeit in der Wahl des situativ zweckmäßigen Führungsstils. So ist bspw. gerade in kleinen interdisziplinären Projektteams nicht in erster Linie der klassische direktive Vorgesetzte, sondern vielmehr der transparent agierende Mentor gefragt. Das setzt geistige Flexibilität und ein hohes Maß an Empathie voraus.“
Was sich wie aus einem Agilitäts-Ratgeber abgeschrieben anhört, ist das Bekenntnis von Generalmajor Reinhardt Zudrop, Kommandeur des „Zentrum Innere Führung“ (no shit!). Sein Titel hört sich noch sehr nach Kommiss und Kadavergehorsam an, aber nichtsdestotrotz ist der General-Coach der agilen Truppen überzeugt, „dass von jeher agil in der Bundeswehr geführt wird.“
Nicht nur der Chef verschwindet bzw. wird ins Innere verlagert, das Gleiche passiert mit dem Betrieb als Ganzes: Eine Vielzahl seiner Funktionen – Anpassung an neue Technologien, Aus- und Weiterbildung der Belegschaft, Pflege des Betriebsklimas, das Einnehmen der Kundenperspektive – all das wird jetzt vom Einzelnen verlangt. In Teambesprechungen findet sich dieser zudem mitunter täglich mit der Begutachtung seiner Leistung konfrontiert und – wenn es dumm läuft – damit vor dem gesamten Team bloßgestellt. Management und Kontrolle wandern ins Innen, und damit hätte es der Kapitalismus mal wieder geschafft, ein neues Ausbeutungsmodell hervorzubringen: Der Chef wird zum Coach, aus Abteilungen Teams und die Arbeiterklasse löst sich im Netzwerk auf.
Understanding Digital Capitalism – Alle Texte im Überblick
Der Algorithmus-Chef
Ganz ohne Boss bzw. Herrschaft geht es aber auch nicht: Er versteckt sich zusehends in der digitalen Technologie selbst. Das Phänomen wird auch als „algorithmischer Chef“ bezeichnet, ein Phänomen, das nicht nur in der agilen Arbeitswelt auftritt, sondern in allen Bereichen, in denen digitale tracking-devices zum Einsatz kommen. Uber-Fahrer etwa stehen einer App gegenüber, die über ihre nächsten Trips allmächtig und despotisch entscheidet, als komplette Blackbox fungierend. Phoebe Moore, Professorin für politische Ökonomie und Technologie an der Uni in Leicester und Autorin eines Standardwerks zur historischen Einordnung agilen Managements, schreibt:
„Management has always looked to technology to abstract labour, but now, technology itself has begun to play the role of management.” – „Das Management hat schon immer auf Technologie gesetzt, um Arbeit auszubeuten, zunehmend schlüpft Technologie selbst in die Rolle des Managements.“
Auch in der Logistikbranche, z.B. bei Amazon, werden Arbeiter*innen unmittelbar von digitalen Geräten überwacht, gegängelt und gemanaged. Wie bei den Fließbandarbeiter*innen in der Industrie bekommen sie das nächstes Ziel und den genauen Weg dorthin von einem Gerät vorgegeben. Ein Arbeiter bei Amazon erzählt, wir schreiben das Jahr 2017:
„Wir sind Maschinen, wir sind Roboter, wir stöpseln unseren Scanner ein, wir halten ihn in der Hand, aber wir könnten ihn genauso gut in uns selbst einstöpseln.”
Dieses geradezu poetische Statement eines quantifizierten, vom algorithmischen Boss gequälten, auf rein mechanisches Funktionieren Reduzierten erinnert nicht zufällig an Kraftwerks berühmtes Werk „Mensch-Maschine“. Der Mensch wird hier zum digital kontrollierten, roboterhaften Teil aus Fleisch und Blut einer weltumspannenden Maschinerie.
Miss dich selbst, dann wirst du gemessen!
Die digitale Quantifizierung menschlicher Regungen kennen wir aus einem anderen Bereich, der sogenannten Freizeit. Beim Sport, wenn es um Gesundheit und Fitness geht, oder bei Ernährungsfragen steht eine Vielzahl digitaler Helferlein zur Verfügung, die uns beim Vermessen, Optimieren und Vergleichen zur Seite stehen: Quantified Self heißt der Trend, von dem kaum ein Aspekt des Lebens ausgenommen bleibt. Das Paradigma von Big Data – so viele digitale Daten wie möglich sammeln und hernach schauen, was damit gemacht werden kann – haben unseren Körper, unseren Alltag und unsere Freizeit invadiert, der Körper selbst, seine Funktionen und die durch sein Funktionieren generierten Messdaten werden biopolitisiert.
Körperliches Vermessen fängt ganz harmlos an. Kleinkinder werden täglich gewogen, das Ergebnis protokolliert und mit den Messergebnissen der Vergangenheit einerseits abgeglichen als auch mit allgemein bekannten Standards – hier steht die fürsorgende Überwachung mit eindeutig medizinischem Sinn und Zweck im Vordergrund. Später dann messen Eltern regelmäßig die Körpergröße von Kindern, hier kommt dann schon ein gewisser Gamification-Aspekt ins Spiel, und überlagert das elterliche Sorgeinteresse. Später wird das Gemesse dann, insbesondere bei Mädchen und Frauen, zur Obsession, bis hin zu Magersucht.
Im Erwachsenenalter geht es dann um Control, Self-Control. Gewichtsmessungen haben hier eher etwas mit Selbstwertgefühl zu tun, als mit tatsächlichen Gesundheitsfragen. Interessant wird es bei denjenigen Messgrößen, die dem freien Willen unterworfen, variabel sind innerhalb gewisser Grenzen, die korreliert sind mit Gesundheit, Fitness, Schönheit oder anderen gesellschaftlich vermittelten Werten: Gewicht, BMI, Indizes körperlicher Aktivität und dergleichen.
So hat in den letzten Jahren – gefördert und gefordert von einer ganzen Industrie – die Vermessung von Gesundheitsdaten ihren Lauf als Mega-Trend genommen. Körper und Geist werden mit Hilfe der Informatik vermessen. Zur Maschine transformiert, die Daten liefert, die dann ausgewertet werden, um wiederum das Funktionieren zu optimieren. Der Gesundheitssektor liefert die passende Rhetorik, mit regelmäßigen Gesundheitschecks soll das optimale Funktionieren dieses Motors aus Fleisch und Blut überwacht werden: Entschlacken, Durchchecken und Durchpusten. Dabei ist der menschliche Körper dank der Evolution doch eigentlich „wartungsfrei“, um ebenfalls eine maschinelle Metapher zu bemühen.
Auf der Suche nach dem one best way of life
Das Messen ist also keinesfalls eine neutrale Angelegenheit, sondern ein hochgradig psychoaktiver Akt. Jede Messung bedingt den Vergleich mit Vorangegangenem und Zukünftigem. Ich vergleiche mich mit mir selbst gestern und morgen, trete in einen Wettbewerb mit meinem gestrigen und meinem zukünftigen Ich. Und mit anderen. Die Vernetzung der Schrittzähler und anderen Devices, wie der Apple Watch, führt zu einer dauerhaften Olympiade der Körperfunktionen. 10.000 Schritte sind gut, aber 10.500 sind besser. Jeden Tag geht es aufs Neue los. Wenn ich eine Waage habe, verlagert sich die Verpflichtung, das Gewicht zu halten, mich gesund zu ernähren, auf den Einzelnen: Erfolg und Misserfolg hängen von mir ab. Andere Ursachen und Akteure geraten aus dem Blickfeld. Als Konsument muss mich für die Light-Produkte entscheiden, eine Entpolitisierung droht, nicht die profitorientierte industrielle Landwirtschaft ist schuld, sondern mein Verhalten als Kunde und Konsument stehen im Fokus.
Es mag uns ein modernes Phänomen scheinen, aber Schritte zählen, mit sich selbst, bzw. mit sowohl dem gestrigen als auch dem morgigen Ich in Wettbewerb treten, das tat schon der „neurotische Sonderling“ (Braverman) Frederick Taylor: Schon als Jugendlicher zählte er seine Schritte, stoppte die Zeit für unterschiedlichste Aktivitäten und versuchte, seine Bewegungen nach Effizienz zu analysieren. An den quantifizierten Subjekten von heute, die digitale Technologien benutzen, um sich selbst zu messen, zu optimieren, ihren one best way of life anzustreben, hätte Taylor sicher seine Freude gehabt.
Vermessung des Selbst bei der Arbeit
Was im Privaten funktioniert, geht auch im Arbeitsumfeld – die Übergänge sind fließend. Sowohl die Apps und Tools selbst, als auch die einmal bekannten und eingeübten Praktiken des Monitorings, der Überwachung, des Erfassens, Messens, Berechnens, Kalkulierens, Dokumentierens, statistisch Auswertens, Teilens, Rankens, als Feedback „ins System“ Zurückspielens – all dies kann sowohl zum Self-Tracking im Freizeitbereich zum Einsatz kommen, als auch am Arbeitsplatz als Teil des „algorithmischen Bosses“.
Der Soziologe Simon Schaupp schreibt in seinem Buch über Digitale Selbstüberwachung im kybernetischen Kapitalismus: „Im Grunde können die meisten Self-Tracking-Anwendungen als Humankapital-Management-Technologien verstanden werden. Ob dieses Humankapital nun von einem Großkonzern, einem Staat, oder einem einzelnen „Unternehmer seiner selbst“ (Foucault) verwaltet wird – die buchhalterische Logik bleibt dieselbe.“ In allen Lebenslagen sind wir aufgerufen, uns zu vermessen. Das eigene Selbst wird zum Humankapital und muss folgerichtig betriebswirtschaftlich optimiert werden.
Die fließenden Übergänge werden auch bei einer anderen Sorte digitaler Tracking-Tools deutlich, konkret bei der Zeiterfassung. Zunehmend wird deren Einsatz auch im Privaten, zum Managen der knappen Ressource Zeit auch im Freizeit-Bereich propagiert. Die Stechuhr aus den Industrie- und Bürokratie-Betrieben kennen viele nur noch aus Filmen, tatsächlich ist dieses altmodische Time-Tracking-Device in neuer Gestalt omnipräsent: Freiberufler nutzen Apps für die Zeiterfassungs wie OfficeTime oder OnTheJob, um festzustellen, wie viel Zeit sie für ein Projekt, eine bestimmte Aufgabe oder einen bestimmten Kunden aufgewendet haben. So können sie ihre Arbeitszeit unterschiedlichen Projekten zuordnen, Statistiken erstellen und gleich auf Templates basierende Rechnungen erstellen. Sie überwachen, ob ein Projekt im Zeitplan ist und das Budget eingehalten wird.
Die App RescueTime ist eher was für notorisch Abgelenkte und Prokrastinierer. Sie erfasst minutiös, wie viel Zeit mit welchen Aktivitäten, etwa Social Media, Surfen, dem Lesen von E-Mails lesen verbracht wird.
„If you stick it out for a while, you will gain valuable insights into your habits. The working day can then be optimized on the basis of these findings.“ – „Wenn Sie eine Weile durchhalten, erhalten Sie wertvolle Einblicke in Ihre Gewohnheiten. Auf Basis dieser Erkenntnisse kann dann der Arbeitstag optimiert werden.“
Was für den Solo-Unternehmer geht, funktioniert auch im Großen: „RescueTime ist eine Aufklärungsanwendung für Firmen, die Manager informiert hält über ihre wertvollste Ressource“, heißt es auf der Website. „Es schafft eine unübertroffene Kultur der Arbeitsplatz-Transparenz.“
Auch am Arbeitsplatz ist der Trend angelangt.
In der schönen neuen Welt der kleinen Teams, parzellierten Aufgaben und reger Projekt-Kommunikation sind Methoden der Vermessung, Kontrolle und Leistungssteigerung gang und gäbe, erfordern doch die Überwachung der agilen Prozesse eine Unmenge an Daten und deren Verarbeitung, möglichst in digitaler Form, möglichst genau und kleinteilig und möglichst in Echtzeit verfügbar – Big Data bei der Arbeit.
Die meistverwendete Software für Agiles Management ist Jira der in London ansässigen Firma Atalassian. Diese und andere Softwareprodukte sind aus dem agilen Produktionsalltag nicht wegzudenken. Ihre Ziele beschreibt der Hersteller folgendermaßen:
- Plan: Erstellen Sie User Stories und Aufgaben, planen Sie Sprints und verteilen Sie Aufgaben auf Ihr Softwareteam.
- Track: Priorisieren und diskutieren Sie die Arbeit Ihres Teams bei umfassender Kontextualisierung und vollständiger Transparenz.
- Release: Liefern Sie mit gutem Gewissen aus, in dem Wissen, dass all Ihre Informationen auf dem neuesten Stand sind.
- Report: Verbessern Sie die Leistung des Teams auf der Grundlage visuell aufbereiteter Echtzeit-Daten, die von ihrem Team produktiv gemacht werden können.
Die Aufteilung in kleine Arbeitshäppchen (Stories, Tickets oder Tasks) ist charakteristisch für agile Methoden und ohne die Unterstützung durch Software für das Tracking des digitalen Workflows kaum realisierbar. Die Arbeitswissenschaftlerin Ursula Huws bezeichnet diese Aufteilung in kleinste Arbeitsschritte, die digital getrackt werden und durch ständig eingeloggte Beschäftigte abgearbeitet werden, als „triple logged labor“ (dreifach geloggte Arbeit): Erstens ist die Arbeit in kleine Häppchen, in standardisierte Einheiten zerhackt („logged“), zweitens sind die Beschäftigten jederzeit „eingeloggt“ in digitale Arbeitsumgebungen, und drittens werden alle ihre Aktivitäten protokolliert und für zukünftige Analysen aufgezeichnet: „Logged labor wird zur neuen Norm“.
Die Kontrolle übernimmt dabei das Team selbst, es überwacht nicht nur die Arbeitsfortschritte, sondern sieht es als sein vorrangiges Ziel an, die velocity zu steigern. Der mit Stoppuhr und Klemmbrett bewaffnete überwachende und kleinteilig managende Vorgesetzte aus dem Taylorismus ist nur vordergründig verschwunden in agilen Arbeitswelten – er ist ins Innere verlagert und unsichtbar geworden, das Team exerziert „wissenschaftliches Management“ nun quasi an sich selbst.
Flachen Hierarchien und neuen Rollen steht auch eine radikale Transparenz gegenüber: Was jede Projektbeteiligte gerade macht, ist für alle ersichtlich. Das Team ist ständig auf dem Laufenden, was sämtliche Aktivitäten der Teammitglieder angeht, und Aktivitäts-Feeds generieren einen ständigen Strom an Leistungs-Daten. Diese Überwachung geschieht dabei durch das Team selbst, nicht etwa durch eine äußere Instanz, Ziel ist auch hier weniger die Kontrolle von außen als die Selbstmotivation des Teams.
Quellen und Links
- Phoebe V. Moore, The Quantified Self in Precarity. Work, Technology and What Counts, Taylor and Francis, 2017
- Simon Schaupp, Digitale Selbstüberwachung. Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus, Verlag Graswurzelrevolution, 2016
- Ursula Huws, Logged In. The new economy makes it harder than ever to untangle capitalism from our daily lives