„Ich mach’ das mit Gehirnwäsche“Interview: Andy NG bringt chinesischen Teenagern das legale Musik-Streaming bei

Andy NG - lede NEU

China und Copyright? Schwieriges Thema. Nirgendwo wurde in der Vergangenheit soviel raubkopiert. Urheberrecht, Tantieme, Respekt? Passen nicht zum kulturellen Habitus. So zumindest das Klischee. Fakt ist: Im Reich der Mitte findet zur Zeit ein bemerkenswerter Transformations-Prozess statt. Ein Prozess, an dem Andy NG aktiv mitwirkt. Er ist der Chef der „Tencent Music Entertainment Group“, dem größten Streaming-Anbieter des Landes. 600 Millionen Kunden nutzen den Dienst, immerhin 15 Millionen davon zahlen monatlich. Tendenz steigend. „Tencent“ ist das zehntgrößte Unternehmen der Welt und kontrolliert mit Plattformen wie „WeChat“ und dem Facebook-Equivalent „Qzone“ das reglementierte chinesische Internet. Da spielt die Musik nur eine Rolle unter vielen, aber: Es ist ein Markt mit großem Wachstumspotenzial. Denn Andy NG und seine rund 2.500 Mitarbeiter haben nicht nur Deals mit den Majors aus dem Westen am Start, sondern betreiben auch aktive Aufklärung, um der chinesischen Jugend die Piraterie-Flausen auszutreiben. Offenbar sehr erfolgreich: Auf der MIDEM, dem Branchentreffen der Musikindustrie in Cannes, traf sich der Manager mit kleineren Labels und Verbänden, um den Katalog für „QQ Music“ weiter zu vergrößern. Mit großem Erfolg. Im Interview mit Das Filter erklärt Andy NG einen Markt, von dem wir in Europa immer noch viel zu wenig wissen.

Als es sich abzeichnete, dass wir uns hier auf der MIDEM zum Interview treffen würden, fiel mir etwas auf. Ich hatte mir bis zu diesem Zeitpunkt noch nie Gedanken über die Musikindustrie in China gemacht. Wie das da funktioniert.
Oh ja? Hmm. Ich bekomme als Standardantwort immer noch: schlechte Erfahrungen, schlechte Erinnerungen.

Piraterie.
Die gab es und gibt es, ja. Aber da sind wir dran.

Das soll natürlich auch Thema dieses Gesprächs sein. Aber zuvor erkläre doch bitte „Tencent“ als Unternehmen.
Tencent ist mittlerweile das zehntgrößte Unternehmen auf der Welt und wird aktuell mit 320 Milliarden US-Dollar bewertet. Beim Online-Gaming und für Spiele auf dem Smartphone sind wir weltweit die Nummer Eins. Wie bieten aber auch viele andere Services an, die sich vor allem um Social Media drehen. Da Facebook es ja nicht nach China geschafft hat, sind wir da sehr gut aufgestellt. „Qzone“ ist die chinesische Alternative zu Facebook und wurde von uns entwickelt: 700 Millionen Nutzer jeden Monat. Von uns stammt auch „WeChat", was man ja auch in Europa kennt.

Als Messenger. Und da ist die Auswahl groß. In China allerdings lässt sich mit der App praktisch alles abwickeln im täglichen Leben.
Da steckt viel drin, ja.

„Wir arbeiten Hand in Hand mit den Labels, aber auch mit der Regierung.“

Nun kann man ja viele Dienste anbieten und trotzdem kein Geld verdienen. Bei „Tencent“ ist das anders.
Da sind wir wieder bei der Piraterie. Beim Gaming zum Beispiel haben wir das Urheberrecht von Beginn an sehr ernst genommen. Wir haben uns mit den Studios zusammengetan, um das geistige Eigentum zu schützen und zu verteidigen. Und auch mit der Regierung. Wir arbeiten Hand in Hand. Es zeigte sich ziemlich schnell, dass diese Allianz tatsächlich erfolgreich war. Anfang der 2010er-Jahre haben wir dann die gleiche Strategie auf die Filmindustrie ausgeweitet. Auch das hat funktioniert. Es geht voran. Wenn unser Team heute eine Webseite entdeckt, auf der Inhalte illegal angeboten werden, können wir die gemeinsam innerhalb weniger Minuten vom Netz nehmen. Das gilt auch für Musik, einen Bereich, in dem wir natürlich auch aktiv sind mit „QQ Music“. Darum kümmere ich mich. Ich bin der Chef. Wir haben zwei Mitbewerber übernommen und das Musikgeschäft ausgegliedert, in die „Tencent Music Entertainment Group“. Unsere „TME“ wird schon jetzt mit rund zehn Milliarden US-Dollar bewertet.

Andy NG 02

Streaming für 600 Millionen Menschen

Das klingt nach einer Menge Kunden.
600 Millionen aktive User jeden Monat, 200 Millionen davon nutzen den Service täglich. Wenn man auf die Situation in China vor rund zehn Jahren zurückblickt, als praktisch alles überall raubkopiert wurde, ist das eine erstaunliche Entwicklung.

Die Tencent aktiv mit gestaltet hat, nehme ich an. Wie sah der Musikmarkt in China denn vor zehn Jahren aus?
Die CD, genauer die offizielle CD, war tot. Raubkopien kosteten nur ein paar Cents, dagegen kamen die Labels nicht an. Neue Musik entdeckten und konsumierten Fans vor allem über das Fernsehen und das Radio. Und natürlich im Netz. Was problematisch war, denn dort gab und gibt es ja alles als illegalen Stream und Download. Es gab einen Präzedenzfall vor ungefähr 15 Jahren, als 20 große Labels die chinesische Suchmaschine Baidu genau deshalb verklagten. Die Musikindustrie war also – notgedrungen – schon für die spezielle Situation in China sensibilisiert. Weil ihnen die Justiz nicht geholfen hat. Für uns war das ein guter Ansatzpunkt, weil „Tencent“ bei Games und Filmen ja schon bewiesen hatte, dass es möglich ist, das Geschäft auf legale Füße zu stellen. Also haben wir mit den Labels verhandelt und sie überzeugt, ihren Katalog an „QQ Music“ zu lizenzieren.

Bei 600 Millionen Abonnenten bedeutet das ja im Umkehrschluss einen radikalen Wandel in den Kulturtechniken und auch für die Jugendkultur in China.

Absolut. Vor allem für die Jugendkultur. Denn tatsächlich ist es für Teenager in China heute ganz normal, für Musik und Filme zu zahlen. Bei den älteren Generationen ist diese Haltung noch nicht angekommen.

Wie setzt man so einen Umschwung in Gang?
Für mich dreht sich alles um Aufklärung. Junge Menschen sind einerseits noch nicht festgefahren in ihren Haltungen. Und sie wachsen natürlich auch in anderen Zeiten auf, in denen dieser Paradigmenwechsel schon spürbar ist. Älteren Leuten, das ist meine Erfahrung, lässt sich das nur schwer vermitteln. Du musst dafür etwas bezahlen: Da erntet man oft nur Schulterzucken, weil es ja immer noch viel umsonst im Netz zu finden gibt. Aber bei den Kids hat sich da etwas verändert. Und wir lassen nicht locker.

„Je direkter der Kontakt mit den Fans, desto größer die Wirkung. Funktioniert!“

Ein Beispiel?
Das Programm läuft jetzt seit rund anderthalb Jahren. Wir arbeiten mit vielen Künstlern zusammen, die diese Message ihren Fans immer und immer wieder vermitteln. Du willst mehr Songs von mir? Dann bezahle bitte für die Musik. Wir bringen die Künstler auch direkt in die Schulen, damit sie sich mit ihren Fans treffen.

Und um mit ihnen über Piraterie zu sprechen? Ich kann mir das nicht so recht vorstellen.
Wenn Lady Gaga jetzt in diesem Moment hier an unseren Tisch kommt und um 100 Dollar bittet. Machen wir beide unsere Portemonnaies auf, oder? Und wir machen auch noch ein Selfie mit ihr. Je direkter der Kontakt mit den Fans, desto größer die Wirkung. Funktioniert! Wir haben natürlich innerhalb der „Tencent“-Gruppe die Möglichkeit, diese Message auf den unterschiedlichsten Kanälen und in zig Apps zu verbreiten. Mit anderen Worten: Ich mach’ das mit Gehirnwäsche. Damit habe ich aber überhaupt kein Problem.

Teenager sind zwar eine beliebte Zielgruppe, aber noch nicht sonderlich kaufkräftig. Attraktiver sind ältere Menschen, die schon eigenes Geld verdienen. Die müssten doch Umsatz bringen.
Genau das habe ich meinem Chef auch gesagt, als wir die kostenpflichtigen Musik-Abos gestartet haben. Das Geld kommt von den 25-40-Jährigen. Meine Worte. Da habe ich mich vollkommen getäuscht. Die stehen zwar schon im Berufsleben, wollen kein Geld für Musik ausgeben.

„In China muss ich unseren Service preisgünstig anbieten – die Masse macht’s.“

Bleiben wir noch einen Moment beim Geld. Es gibt den Begriff des „ARPU“, „average revenue per user“. Es ist einer der wichtigsten Indikatoren in allen Branchen, die mit Laufzeitverträgen arbeiten, egal ob Mobilfunk, Netflix oder Spotify. Dieser ARPU ist in China vergleichsweise niedrig, weil Services deutlich preisgünstiger angeboten werden und angeboten werden müssen, um Relevanz zu erzeugen. Was sagen die westlichen Labels dazu, die ja eher auf Gewinnmaximierung fixiert sind?
Das wird akzeptiert. Erstens ist unser Ziel, den ARPU stetig zu vergrößern. Das wissen auch unsere Partner. Und zweitens darf man nicht vergessen, dass in China so unglaublich viele Menschen leben, dass die alte Rechnung – die Masse macht’s – schon auch wichtig ist. In der Filmindustrie haben sich die Studios auch von ihren sonstigen Margen verabschiedet und es funktioniert trotzdem. Das hat auch mit dem Lebensstandard zu tun. Ich zum Beispiel lebe in Hongkong. Sieben Millionen Einwohner. In Hongkong haben wir rund 60.000 zahlende Kunden. Die zahlen rund zehn US-Dollar pro Monat. In China muss ich den Service preisgünstiger anbieten. Da leben aber auch mehr Menschen, was den Preisunterschied ausgleicht. Ich sehe das so: Wenn ich von allen meinen 600 Millionen Kunden nur 50 Cent pro Monat bekommen würde – das würde sich lohnen. Für alle Beteiligten.

Wie viele Kunden haben denn schon ein kostenpflichtiges Abo?
Aktuell rund 15 Millionen. Bis zum Ende des Jahres wollen wir 18 Millionen erreichen, 2019 sollen es 25 Millionen sein.

Andy NG - Statistik

Die Entwicklung und Prognose zahlender Kunden bei Tencents Musikgeschäft

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Mit welcher Strategie?
Ich hatte ja zu Beginn bereits erwähnt, dass „Tencent“ zwei Mitbewerber übernommen hat. Die sind nicht in „QQ Music“ aufgegangen, sondern als eigenständige Portale erhalten geblieben. Wir zielen mit den drei Diensten auf unterschiedliche Altersgruppen ab, nehmen aber vor allem bestimmte Regionen in China in den Blick. „QQ Music“ ist vor allem für die Großstädte mit vergleichsweise hohem Lebensstandard. Dort wird andere Musik gehört als auf dem Land. Obwohl der Katalog auf allen drei Plattformen praktisch identisch ist, werden innerhalb der Apps ganz spezifische Dinge gefeaturet, zugeschnitten auf den vorherrschenden Geschmack vor Ort.

Der Katalog von „QQ Music“ umfasst aktuell rund 17 Millionen Tracks. Welche Rolle spielt dabei westliche Musik?
Etwa 60 Prozent sind von westlichen Labels lizenziert, nur vier Prozent unseres Katalogs sind chinesische Musik. Aber: Diese vier Prozent machen rund 80 Prozent aller Plays aus. Das ist regional wiederum sehr unterschiedlich. In den großen Städten kennen die Kids Lady Gaga. In ländlichen Gegenden eher nicht.

Das ist ja ein überraschender Fokus auf heimischer Musik. Gilt das für die gesamte Jugendkultur?
Der größte nichtchinesische Einfluss auf unsere Jugendkultur war bislang Korea. Aber das ändert sich aktuell, nicht zuletzt aufgrund der aktuellen politischen Lage. Wir haben seit geraumer Zeit nicht mehr die Möglichkeit, koreanische Musik so zu promoten wie früher. Das ist nicht erwünscht. Seitdem stellen wir fest, dass westliche Popmusik immer beliebter wird. Ich kann auch nur für die Musik sprechen, um ehrlich zu sein. Die Kids wollen immer etwas Neues. Keine Oldies. Beatles, Bee Gees: Das will kein chinesischer Jugendlicher hören. Sie wollen Idole, denen sie sich nahe fühlen können.

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