Agilität und „Unbossing“ oder: Wo ist bloß der Chef hin?Understanding Digital Capitalism IV | Teil 6

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Nein, nicht falsch gelesen: Es geht um unbossing, nicht um unboxing. Timo Daum erklärt in dieser Folge von UDC, wie der Arbeiter vom trainierten Gorilla zum Arbeitskraftunternehmer wird – und der Chef vom Einpeitscher zum guten Hirten oder besser gleich zum inneren Chef, den jeder im „Projekt“ internalisiert hat. Wenn früh am Morgen die Werkssirene dröhnt war einmal, heute quantifiziert und diszipliniert sich das Selbst selbst.

Wer ist hier eigentlich der Chef?

Beim letzten Mal ging es um Frederick Winslow Taylors Erfindung des „wissenschaftlichen“ Managements, das sich auf die einfache Formel „take back control“ reduzieren lässt: Das Management schöpft die Expertise der Fachleute ab, generiert daraus den bestmöglichen Weg, um eine bestimmte Arbeit optimiert zu erledigen, und erlegt diese daraufhin in einem mikro-managenden Kontrollregime den Arbeitern auf. Aus der handwerklichen Schwarmintelligenz wird der Algorithmus des Managements, welches den in diesem deskilling-Prozess ent-fähigten Arbeitern eben diese Vorschrift zum hirnlosen Abarbeiten aufträgt.

Ganz anders in der heutigen agilen Projektwelt: Der Arbeiter ist hier alles andere als ein „trainierter Gorilla“ (Taylor): Er ist Experte, wird als Mensch im Team ernst genommen, vom Scrum Master umsorgt. Er unterscheidet sich als kognitiver Facharbeiter grundlegend vom auf seinen „starken Arm“ reduzierten Fließbandarbeiter – so scheint es zumindest. Nicht nur der Arbeiter, auch das Management hat sich grundlegend gewandelt. Unter dem Regime des „scientific management“ war es noch allwissend und übermächtig. In der agilen Arbeitswelt ist der klassische Projektmanager abgeschafft, flache bzw. am besten gar keine Hierarchien werden angestrebt und durch Gruppenverantwortung und Selbststeuerung ersetzt, das Management tritt in den Hintergrund. Der Chef ist „eher Sparringspartner und Coach“, so der Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens für Ladesicherungen. Der neue CEO der Schweizer Pharmafirma Novartis, Vasant Narasimhan, ruft gleich zum konzernweiten „unbossing“ auf – er selbst natürlich ausgenommen.

Wo ist er also geblieben, der Boss? Wo ist sie hin, die Hierarchie, wenn – wie einer der neuesten Management-Trends, die „holacracy“ verkündet, es gebe fortan kein oben und unten mehr, es gebe nur noch nebeneinander? Darum soll es diese Woche gehen.

Anmerkung: In den vorangegangenen Absätzen war konsequent von Männern die Rede, was ist eigentlich mit der anderen Hälfte? Hier sieht es in der agilen Projektwelt genauso mau aus, wie an den Fließbändern Fords und Daimlers. Selbst nach jahrzehntelangen Kampagnen für eine Erhöhung der weiblichen Beschäftigung, insbesondere in den MINT-Disziplinen, ist die Bilanz erbärmlich und das insbesondere in Deutschland: Der Frauenanteil bei den Studierenden der Informatik lag 2017 bei beschämenden 17 Prozent, berichtet der Deutschlandfunk. Und auch im Beruf sieht es nicht besser aus: Im Bereich KI sind durchschnittlich 22 Prozent der KI-Fachleute Frauen, in Deutschland gar nur 16 Prozent. Insofern herrscht Kontinuität, was die geschlechtliche Arbeitsteilung angeht – Roheisen stemmen und Sprints schaffen sind gleichermaßen Männerdomänen.

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Die Fabrik, der Betrieb, das Personal und der Chef

Die Fabrik war lange Zeit der Standard-Rahmen für die Ausführung kapitalistischer Produktion. Hier konzentrierte sich die Belegschaft, konstituierte sich das Proletariat und ließ den Acker und die Werkstatt als paradigmatische Orte mühsamer Handarbeit hinter sich. Im Zuge der Industrialisierung wurden nicht nur die Manufaktur, sondern auch anderen Bereiche der Gesellschaft nach dem Vorbild des Fabrik-Betriebs umgebaut: Auch die Verwaltung exerzierte das Credo der Organisation nach Max Weber an sich selbst und wurde so zur Organisations-Fabrik. Als „Betriebe zur Herstellung verbindlicher Entscheidungen“ definierte sie der große Theoretiker moderner Systeme, Niklas Luhmann.

Der Chef im Betrieb inkarnierte demzufolge Webers Idealtypus unpersönlich-bürokratischer Herrschaft: Der Chef ist angehalten, „primär mit den Mitteln formaler Organisation zu regieren, ein dichtes Netz allgemeiner Regeln für jeden Fall auszubauen, verlässliche Kontrollen einzuführen und Verstöße zu ahnden.“ Das Herr-Knecht-Verhältnis im Betrieb stellt sich für Luhmann folgendermaßen dar: „Es muss unten maximale Energie bereitstehen, die von oben mit minimaler Energie (auch „Information“ genannt) gesteuert werden kann.“ Taylor hätte das nicht besser formulieren können! Und wenn nicht pariert wird, droht der Chef mit Sanktionen, bis hin zur Entlassung, die bei Luhmann – keiner kann das so elegant-subtil formulieren wie er – „Mitgliedschaftsalternative“ heißt.

Schafft ein, zwei, drei viele Projekte!

Unternehmen wird heute empfohlen, sich selbst als Projekt oder als Reihe von Projekten neu zu erfinden. Was etwa in der Filmbranche Tradition hat – Teams treffen für ein Projekt zusammen und gehen danach wieder auseinander –, wird zum branchenübergreifenden Vorbild. Dabei werden die Arbeitsgruppen bzw. -teams je nach Priorität und Bedarf neu zusammengesetzt. Das führt dazu, dass jeder an der aktuellen Leistung im Projekt gemessen wird. Das langfristige Ansammeln von Verdiensten, Status und Respektabilität ist nicht mehr möglich: Du bist nur so gut wie dein letztes Projekt.

Großunternehmen wie SAP, Bosch und viele andere gründen heute eigene Start-Ups oder integrieren Teams in die eigene Unternehmens-Struktur, die wie Start-ups funktionieren. So rief Bosch-Chef Volkmar Denner 2015 seine 375.000 Mitarbeiter auf, mit Ideen die eigenen Geschäftsmodelle anzugreifen und „disruption discovery teams“ zu bilden. Um schnell Innovationen entwickeln zu können, wird immer mehr auch organisatorisch auf Projekte umgestellt und Start-up-Kultur in-house kultiviert, um in immer dynamischeren Märkten zu bestehen.

Dirk Baecker, deutscher Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke, betont die Bedeutung einer „Philosophie eines agilen Managements, die zugleich auf einen hohen Grad der Vertaktung von Organisation und der Schaffung von Spiel- und Freiräumen setzt“. Selbstorganisation ist gefragt, das Management verjagt, und wie nach einer wirklichen Revolution können die Revolutionären sich an die vernünftige Bewältigung der anstehenden Aufgaben machen. Das Management wird dabei in der agilen Kulturrevolution einfach beiseite geschoben, das Team organisiert und steuert sich selbst. Das elfte Prinzip des Agilen Revolutionsmanifests betont das:

„The best architectures, requirements, and designs emerge from self-organizing teams.“ – „Die besten Architekturen, Anforderungen und Entwürfe entstehen durch selbstorganisierte Teams.“ (11. Prinzip)

Unbossing. Niemand will mehr Chef sein

Der neue Chef geht dabei ganz behutsam vor, ist „guter Hirte“ (Ulrich Bröckling) des Humankapitals, achtsamer Begleiter der Kreativprozesse. Luhmann betont, der neue Chef wisse, dass Konflikte zu große Belastung darstellten, „daher sind alle neueren Bestrebungen auf Entspannung gerichtet.“ Der Mensch wird als „hochkomplexes, durch Selbstbewusstsein und Angst gesteuertes Handlungssystem“ erkannt, die neuere Arbeitspsychologie erfordert „viel Rücksicht auf Seiten der Organisation“. Das (Betriebs)klima muss stimmen – für jemand wie Taylor oder Ford dürften solche Konzepte, hätten sie deren Durchsetzung noch erlebt, als Gewäsch abgetan.

Dass der Generation Z (den ab 1995 Geborenen) das Chef-Sein gar nicht mehr attraktiv erscheint, passt da natürlich. Auf einer Website erklärt uns Triumph-Adler, wie sich die Generation Z den Chef vorstellt: „Etwas Sinnvolles tun, flexibel arbeiten und Verantwortung für Projekte übernehmen: So sieht die moderne Karriere aus. Chef werden? Gehört nicht dazu. Die kriegen Druck von oben, Druck von unten und werden peu à peu zerrieben. Was soll daran erstrebenswert sein?“ Der Typ Schleifer ist out, der Chef soll sich kümmern. „Mit 60-Stunden-Wochen und nächtlichem Beantworten von E-Mails können die Jugendlichen der Generation Z nichts anfangen“, sagt Unternehmensberater Rüdiger Maas. „Wenn Führungskräfte stolz davon erzählen, wie sie morgens die Ersten im Büro sind und abends das Licht ausknipsen, ernten sie bei Digital Natives nur Kopfschütteln. Da haben sich Werte verschoben.“ Im Future Talents Report der Unternehmensberatung Clevis, die sich um die Rekrutierung der Jüngsten sorgt, steht zu lesen: „Die Generation Z ist daran gewöhnt, dass man sich um sie kümmert.“ Die jungen Frauen und Männer suchen einen eher familiären Chef, der sich als Mentor versteht.

Vom Lohnsklaven zum Arbeitsunternehmer. Auf dem Weg zum inneren Chef

Bei Marx findet sich die Überlegung, der Arbeiter sei ja ein als freier Warenbesitzer und Händler auf dem Markt Auftretender, allerdings mit nur einer Ware im Angebot – seiner eigenen Arbeitskraft, die er an den Meistbietenden zu verkaufen sucht. Er ist Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft, Arbeitskraftunternehmer. Gleichzeitig bezeichnet Marx den Lohnarbeiter wiederholt als Lohnsklaven und stellt ihn damit in eine historische Abfolge der unfreien Arbeitsverhältnisse. Für Marx ist der Lohnarbeiter der bis dato Freieste aller Unfreien, Enkel in einer Genealogie, die bei der Sklaverei beginnt und über die Leibeigenschaft zum Lohnarbeiter führt.

Die Soziologen Gerd-Günter Voß und Hans J. Pongratz nahmen den Begriff 1998 auf und wendeten ihn an auf einen neuen Typus Arbeits-Händler: „Aktuelle betriebliche Strategien der Arbeitsorganisation, die verstärkt auf eine Selbstorganisation von Arbeit setzen, verändern das Verhältnis von Arbeitskraft und Unternehmen grundlegend. Auf Seiten des Betriebs ermöglichen sie den Abbau direkter Kontrollen und die Nutzung neuer Leistungspotentiale; von den Arbeitskräften erfordern sie eine systematisch erweiterte Selbststeuerung und Selbstkontrolle. Die bisher vorherrschende Form des 'verberuflichten Arbeitnehmers' wird in vielen Arbeitsbereichen abgelöst durch einen neuen strukturellen Typus, den 'Arbeitskraftunternehmer'.“

Kennzeichen dieses Typus sind eine erweiterte Selbstkontrolle der Arbeitenden, der Zwang zur verstärkten Ökonomisierung der eigenen Arbeitsfähigkeiten und -leistungen und eine Verbetrieblichung der alltäglichen Lebensführung. Der Betrieb als Ganzes wird ins Innen verlagert. Der Arbeitskraftunternehmer wird so zur nächsten Stufe in der Geschichte der Unfreiheit: noch freier als der Lohnarbeiter, aber eben immer noch gezwungen, als Arbeitskraftunternehmer zu agieren. „Sich selbst als Firma begreifen und mit den Augen potenzieller Kunden betrachten“ – so beschrieb der Soziologe Ulrich Bröckling bereits 2004 dieses neue Selbstverständnis. Gewissermaßen muss nun das eigene Leben „als Betrieb“ oder as a service organisiert werden.

„Want to be your own boss? Start today!“

Was der Slogan der US-amerikanischen Firma Lyft, Konkurrent von Uber um die Vorherrschaft im Mobilitäts-Sektor zum Ausdruck bringt, ist der „neue Geist des Kapitalismus”, in dem Selbstoptimierung, lebenslanges Lernen, unternehmerische Validierung der eigenen Arbeitskraft und Biografie für jeden Einzelnen zum ständigen Begleiter werden. Die Fabriksirenen und das Fließband haben wir hinter uns gelassen. Heute ist das ganze Leben zum Fließband geworden, und digitale Technologien klingeln uns ständig wach, erinnern uns an die nie enden wollenden planning poker im Sprint des Lebens.

• Der Planning poker: „Kartenspiel“, spielerisches Verfahren zur Schätzung von Aufwänden

Der Boss ist also gar nicht verschwunden, sondern wurde ins Innere verlagert. Und das Management behält trotzdem die Kontrolle, nicht zuletzt aufgrund ständiger digitaler Überwachung und Optimierung am Arbeitsplatz. Denn – und darum wird es in der kommenden Folge gehen – der Mega-Trend quantified self rund um Fitnessarmbänder, Big Health und Gamification ist keineswegs auf den Freizeitbereich beschränkt: Nach dem Essen sollst Du ruh'n oder tausend Schritte tun – das gilt genauso beim quantifizierten Selbst am Arbeitsplatz bzw. im Home office.

Quellen

• Niklas Luhmann, Der neue Chef, Frankfurt 2016
• Ulrich Bröckling, Gute Hirten führen sanft: Über Menschenregierungskünste, Frankfurt 2017
• Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt 2007
• Dirk Baecker, 4.0 oder Die Lücke, die der Rechner lässt, Leipzig 2018

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