„Weniger Publikumsunterforderung, mehr Fokus!“„Die Woche der Kritik“ rollt die Berlinale von hinten auf

Woche der Kritik

Weniger roter Teppich, mehr inhaltliche Debatten: Die „Woche der Kritik“ will der Filmkritik zurück zur Relevanz verhelfen - passend zur Berlinale versteht sich. Im Interview erklärt Frédéric Jaeger, der Direktor der Veranstaltungsreihe und Chefredakteur von critic.de, was von der Reihe zu erwarten ist und wie sie sich in den Berlinale-Trouble einpasst.

Wenn morgen die Berlinale beginnt, wird sich ein Großteil der Aufmerksamkeit naturgemäß auf die Filme des offiziellen Wettbewerbs richten. Dass das Festival mehr zu bieten hat, mag eine Binsenweisheit sein, die ein kurzer Blick auf die nackten Zahlen aber eindrucksvoll unterstreicht. In den offiziellen Sektionen des Festivals werden etwa 400 Filme gezeigt, dazu laufen noch diverse Nebenreihen und nicht zuletzt können Vertreter der Filmwirtschaft unter Ausschluss der Öffentlichkeit – sozusagen im B2B-Bereich der Berlinale – stolze 700 Filme sichten. Den Überblick zu behalten ist für Besucher wie für die etwa 3.500 (!) Journalisten also von vornherein ein hoffnungsloses Unterfangen.

Eine eigene Stimme hatte die Filmkritik während der Berlinale – im Gegensatz zu anderen europäischen Filmfestivals – jedoch bislang nicht. Das soll sich nun ändern, denn mit der „Woche der Kritik“ lädt der Verband der Deutschen Filmkritik erstmals zu einer kleinen, aber fein kuratierten Film- und Diskussionsreihe in die Kinos der Hackeschen Höfe, die zu einem der interessantesten „Nebenschauplätze“ des Festivals avancieren könnte.

Warum braucht die Berlinale noch eine weitere Filmreihe?

Es wird Zeit, dass die Filmkritik auch mal ihre Beobachterrolle aufgibt und sich einmischt. Das geht natürlich nur, wenn wir Kritiker dabei unabhängig bleiben. Deswegen haben wir eine parallele Reihe ausgerufen und gestalten sie mit sieben Filmprogrammen und sieben Debatten. Konzentriert, aktivistisch, verspielt und hoffentlich auch kontrovers.

Wie ist das Verhältnis der „Woche der Kritik“ zur Berlinale? Versteht sie sich als Supplement, gar als Teil der Berlinale oder eher als einen Gegenpol?

Die Berlinale beobachtet uns mit Argusaugen. Und wir gucken natürlich auch auf den Potsdamer Platz und was alles an diesem vielleicht unangenehmsten Platz der Stadt, im sogenannten neuen Zentrum Berlins, stattfindet. Aber unsere Reihe ist keine Gegenveranstaltung zur Berlinale, sondern eine Reaktion auf die Probleme, die wir allgemein in der Kinokultur beobachten.

Was sind das für Probleme?

Das reicht von Markthörigkeit über die Publikumsunterforderung bis zum elenden Proporz zur Sicherung der größtmöglichen Machtbasis. Die Berlinale ist ein Symptom, nicht aber die Ursache dieser Probleme. Deswegen ist es auch zwecklos zu fordern, Dieter Kosslick abzusetzen. Klar wollen wir ein Stachel sein. Das macht uns nicht zur Opposition, aber vielleicht schon zu einer Alternative. Praktisch gesprochen nutzen wir auch schlicht die Gelegenheit, dass während der Berlinale viele Leute in der Stadt sind, die vom oder fürs Kino leben. Mit ihnen wollen wir ins Gespräch kommen und darüber hinaus mit den vielen weiteren Menschen, die neugierig und offen dafür sind, sich mit Filmen auseinanderzusetzen. Wir wollen etwas anstoßen, das viel weiter reicht als ein einzelnes Festival.

„Wir wollen anregende Debatten.“

Du hast zusammen mit vier anderen Filmkritikerinnen und Kritikern elf Filme ausgesucht. Anders als im „normalen“ Festivalbetrieb wird es bei euch jedoch nicht nur Premieren geben. Was waren die Kriterien bei der Filmauswahl?

Wir haben uns bei der Filmauswahl erst einmal alle Freiheiten gelassen, weil es nicht darum gehen darf, Filme aufgrund ihres Neuigkeitswerts zu zeigen. Premieren bergen übrigens auch die Gefahr, Diskurse zu überschatten, weil es dann oft heißt: nett lächeln und abfeiern. Nun sind bei der Programmauswahl dann aber doch drei Weltpremieren und eine Europapremiere herausgekommen, fünf der Filme laufen erstmals in Deutschland. Das hat auch damit zu tun, dass trotz anders lautender Gerüchte viele herausragende Filme in Deutschland nicht die Plattform bekommen, die sie unserer Meinung nach verdienen. Unser oberstes Kriterium war es, Werke zu finden, die Stoff für anregende Debatten liefern. Aber natürlich können wir als Filmliebhaber nicht anders, als von den Filmen auszugehen und diejenigen zu verteidigen, die uns etwas bedeuten, die etwas auslösen, die nachhallen, die Lust bereiten und die uns beeindrucken.

On The Job

Szene aus „On The Job“, einer der Filme der „Woche der Kritik“. Bild: Reality Entertainment, Inc.

Un jeune poet

Szene aus „Un jeune poète“. Bild: MLD Films

Was ist eigentlich das Spezifische eines Kuratorenteams aus FilmkritikerInnen?

Wir haben uns während der Sichtung Kommentare geschrieben zu den Filmen, die wurden mit der Zeit immer länger und dialogischer. Das kann manchmal ganz schön ausufern, wenn man erstmal richtig diskutiert, aber wir hatten viel Spaß daran, uns gegenseitig zu widersprechen. Und weil wir uns für die Vorauswahl auf persönliche Empfehlungen gestützt haben, war die Qualität der Filme so hoch, wie ich sie noch in keiner anderen Sichtung erlebt habe. Natürlich sind bei uns schon auch unterschiedliche ästhetische Konzeptionen und Maßstäbe aufeinander getroffen, aber gerade das war eine lohnenswerte Reibungsfläche.

Anders als bei normalen Festivalaufführungen sollen im Anschluss an die Screenings Diskussionen stattfinden, die über ein klassisches Q&A hinausgehen. Ist das dann die Umsetzung eures Slogans „Filmkritik wird Programm“?

Nein, das gehört alles zusammen: die Konzeption der Reihe, die Filmauswahl, die Programmierung und Terminierung der Filme, die Stichworte, unter denen die Filme organisiert sind und schließlich die Debatten. Wir haben uns sieben Programme überlegt, beginnen beim „Aktivismus“ und enden bei „Kontroverse“. Dazwischen wollen wir mit On The Job das Potenzial vom Genrefilm ins Licht rücken, mit Le Journal d’un vieil homme den Widerstand gegen den Kulturpessimismus proben und die Lust am Mainstream anhand von den Romantic Comedies Don’t Go Breaking My Heart 1 & 2 erforschen. Wir wollen mit nervigen Protagonisten wie in Un jeune poète provozieren und auch den Status von Filmemachern, Festivals und Kritikern demontieren. Insofern stimmt es schon: Uns ist es sehr wichtig, dass wir solche zentralen Fragestellungen ausgehend von den Filmen diskutieren und uns nicht auf das beschränken, was man gerade auf der Leinwand gesehen hat, oder was sich ein Filmemacher dazu gedacht hat. Bei alldem geht es immer wieder darum, welche Rolle die Filmkritik spielen kann und muss.

„Die Filmkritik hat schon deswegen einen schweren Stand, weil sie sich immer mehr als Dienstleistung versteht. Das ist zweckdienlich und effektiv, vor allem aber einseitig. Wo entsteht ein Gespräch, wenn das Gegenüber nicht ernst genommen wird?“

Frederic Jaeger

Frédéric Jaeger, Direktor der „Woche der Kritik“

Wie würdest du das Verhältnis zwischen Filmkritik und Publikum skizzieren? Registrierst du von Seiten des Publikums Vorstellungen darüber, was Filmkritik leisten soll und unter welchen Umständen sie überhaupt entsteht?

Es gibt weder die Filmkritik, noch das Publikum. Auf beiden Seiten gibt es Vorurteile, und wir tun gut daran, sie immer wieder als solche zu begreifen. Ich glaube, die Filmkritik hat schon auch deswegen einen schweren Stand, weil sie die Kommunikation mit ihren Adressaten immer mehr auf eine Form der Dienstleistung fokussiert hat. Das ist zweckdienlich und bisweilen effektiv, vor allem aber einseitig. Wo entsteht ein Gespräch, wenn das Gegenüber nicht ernst genommen wird?

Aber wie ernst nimmt denn „die Filmkritik“ die Filme selber, gerade in so einer Festivalsituation? Schließlich drängelt sich die Presse während einer Berlinale von einem Screening zum nächsten. Dazwischen entbrennen ja selten die ganz leidenschaftlichen Diskussionen, stattdessen werden schnell andere Fragen laut: Was man als nächstes sehen sollte oder wo man mal eben etwas zu essen herbekommt. Und noch später am Tag hacken Journalisten innerhalb irre knapper Zeitfenster ihre Rezensionen in ihre Laptops.

Die Woche der Kritik begreifen wir auch als Moment der Entschleunigung. Natürlich kann sich das nicht jeder leisten, aber wir wollen es anregen. Vielleicht klappt es ja doch an dem einen oder anderen Abend sich selbst zu sagen: Heute lasse ich den gehetzten Arbeitsalltag um halb neun ruhen und suche die Konzentration – auf ein Filmprogramm und eine Fragestellung. Denn den Irrsinn von immer weniger Aufmerksamkeit für immer mehr Filme, den muss man auch mal ausklammern. Weniger Zerstreuung und weniger Affirmation, dafür mehr Fokus.

Hat es eigentlich einen bestimmten Grund, warum die Woche der Kritik ins Kino der Hackeschen Höfe gegangen ist?

Ich finde es sehr treffend, dass das Hackesche Höfe Kino uns beherbergt. Denn es ist nicht irgendein randständiges Kino, sondern in der Mitte der Stadt, es ist ein Programmkino par excellence, zeigt ein breites Angebot für ein interessiertes Publikum, das aber nicht nur aus leidenschaftlichen Kinogängern besteht, sondern auch aus vielen Menschen, die nur ab und an ins Kino gehen, so wie sie auch andere darstellende Künste wahrnehmen. Solche Querverbindungen erhoffe ich mir, gerade weil es in Berlin so vieles neben dem Kino gibt. Ich finde es für uns ohnehin wichtig, dass wir uns nicht in einem Kokon bewegen, der nur aus Gleichgesinnten und Gleichsozialisierten besteht.

Was sind deine Erwartungen an die diesjährige Berlinale?

Vor allem bin ich gespannt. In den letzten Jahren hat sich die Berlinale im Wettbewerb bewusst verändert und wurde offener für freiere, auch ästhetisch interessante Formen. Nun hat Kosslick womöglich ein letztes Mal seinen Vertrag verlängert und genießt offenbar Narrenfreiheit – anders kann ich mir die Auszeichnung mit Berlinale-Kameras für eine Köchin und einen Slow-Food-Aktivisten nicht erklären: Kosslick würdigt 2015 nämlich das Engagement von Alice Waters und Carlo Petrini für eine gesündere und lokalere Essenskultur, die im Zusammenhang mit seiner Reihe Kulinarisches Kino steht. Mit Film haben die beiden Preisträger aber letztlich nichts zu tun, nur eben mit dem persönlichen Anliegen des Festivaldirektors. Das ist eine Premiere in der Ära Kosslick, denn bis dato waren alle Berlinale-Kamera-Preisträger auch um Kinokultur bemüht. Das könnte also der Beginn einer weiteren Öffnung des Programms weg vom Kino sein. Andererseits umsorgt Kosslick gerne alle, insofern könnte ich mir auch sehr gut vorstellen, dass er im Wettbewerb Ausgleich sucht für uns andere, die sich mehr fürs Kino interessieren, als fürs Essen – und vielleicht wird es die beste Berlinale, die ich je erlebt habe.

Die Woche der Kritik findet vom 05. bis zum 12. Februar in den Kinos der Hackeschen Höfe statt. Die Filmprogramme starten jeweils um 20:30 und sind öffentlich zugänglich. Alle Infos: online.

##Die Trailer

Un jeune poète

On The Job

Revivre

Transformers: The Premake

Don't Go Breaking My Heart 2

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