Serienkritik: Slow Horses – 2. Staffel (AppleTV+)Russische Sleeper
30.11.2022 • Film – Text: Thaddeus HerrmannAm 2. Dezember startet die zweite Staffel von „Slow Horses“ auf AppleTV+. Die Adaption des „Dead Lions“-Romans von Mick Herron spielt im London der Jetztzeit. Einem London, das droht, von russischen Sleeper-Agent:innen überrannt zu werden. Gary Oldman als Jackson Lamb ist in Topform. Wir konnten die Staffel schon vor dem Streaming-Start durchschauen.
Der ehemalige MI5-Agent stirbt im Schienenersatzverkehr. Und dann eskaliert die Lage.
Sie sind wieder da. Die abgeschobenen und mit Skepsis beäugten Agent:innen aus dem Slough House in London. Dort arbeiten die Spies, die im „The Park“, dem fiktiven Hauptquartier des britischen MI5, keine Schreibtische mehr haben. Der eine hat etwas zu sehr verbockt, die andere zu viel getrunken, wieder ein anderer sich in den politics des Machtgerangels in Westminster verstrickt. Erst Ende April diesen Jahres ging die erste Staffel zu Ende. Nun startet die Adaption des zweiten Romans von Mick Herrons Slow-Horses-Reihe. In „Dead Lions“ – das Buch erschien 2013 – nimmt der Autor genau das Szenario in den Blick, das Jahre, wenn mittlerweile nicht sogar Jahrzehnte vollkommen abstrus schien: die Reaktivierung ehemaliger KGB-Agent:innen im Westen. Alte Seilschaften, veränderte politische Realitäten, intakte Kommandostrukturen bzw. Strippenzieherei. Genoss:innen haben den Finger am Knopf. Und dieses in der aufgeklärten Öffentlichkeit als Paralleluniversum wahrgenommene Szenario scheint im Roman realer, als uns allen lieb ist. Als ich Anfang Mai 2022 über die erste Staffel von „Slow Horses“ schrieb, nannte ich die BBC-Serie „Spooks“ als einordnende Referenz. Ist es Zufall, dass ein ähnliches Szenario bereits 2008 in der siebten Staffel dieser Serie das Setting bestimmte?
Der ehemalige MI5-Agent – Dickie Bow – stirbt also im Schienenersatzverkehr. Das interessiert zunächst niemanden so richtig, aber weil Jackson Lamb eben schon so lange für den MI5 arbeitet, erinnert er sich an seinen früheren Kollegen, schaut sich den Bus an, findet Bows Telefon und darauf eine alarmierende Notiz. Er schickt River Cartwright (Jack Lowden) zum Recherchieren los. Der hatte sich gerade vorgenommen, den Service zu verlassen und in einer Sicherheitsfirma beruflich Fuß zu fassen. Aber natürlich – slow horse halt – klappt das nicht. Also macht er sich auf den Weg gen Norden zum Tatort und wird fündig. Irgendwie.
Und so entwickelt sich eine mit angemessener Dramatik erzählte Story zwischen poshem britischen Landleben und Londoner Tristesse. Alle sind immer am pumpen – physisch und mental. Hier wird geküsst, dort explodiert. Hier beobachtet, dort enttarnt. Denn nichts ist so einfach oder offensichtlich, wie es zunächst scheint. Das Team ist trotz aller Stolpereien in Hochform. Regisseur Jeremy Lovering filmt mit Präzision. Der Cast neben Gary Oldman – Saskia Reeves, Aimee-Ffion Edwards, Rosalind Eleazar, Dustin Demri-Burns etc. – tauchen in ihre Rollen ab und spielen sich gegenseitig an die Wand. Und am Ende wird fast alles gut. Mal wieder, und natürlich stimmt das nicht. Denn worum es wirklich geht, bleibt bis zur letzten Sequenz vollkommen unklar.
What If?
„Dead Lions“ ist eine große Parabel, die sich ein immer wiederkehrendes Motiv der Geheimdienstliteratur zu nutze macht: What if. So verschwimmt das eigentliche Storytelling schnell zu einem konstanten Hinterherhasten in Richtung Wahrheit, Realität und Wirklichkeit. Was wäre wenn: Diese drei Worte stehen als Thema über allen sechs Folgen der neuen Staffel von „Slow Horses“. Das komplexe Verwirrspiel des russischen Widersachers ist perfide ausgedacht und orchestriert. Und lähmt genau die Grundfesten, die in der Geheimdienstarbeit sowieso nicht gelten dürfen, natürlich aber immer als moralische Instanz des gesunden Menschenverstands mitschwingen: Vertrauen und Verlässlichkeit.
Ich frage mich derweil, woher die britische Obsession mit möglichen Oldschool-Angriffen aus Russland kommt. Ist es wirklich nur die Tatsache, dass in London mehr Oligarchen leben als in Moskau? Oder dass Chelsea schon längst Chelsky genannt wird? Jackson Lamb trifft sich mit seiner Chefin Diana Taverner (gespielt von Kristin Scott Thomas) immer an leicht versifften Kanälen. Ich träume mich derweil weiter nach Primrose Hill, blicke hinunter auf das Swiss Cottage und denke weiter nach.
In der 7. Staffel von „Spooks“ wäre fast eine russische Atombombe in London explodiert. So schlimm kommt es bei „Slow Horses“ nicht. Auch wenn Kampfflieger über der britischen Hauptstadt aufsteigen. Aber ich greife vor. Spoiler gibt es bei uns nicht.
Slow Horses (2. Staffel)
UK, 2022
Regie: Jeremy Lovering
Die Serie läuft bei AppleTV+ (6,99 €/Monat)