Wieso postet man Katzen, obwohl man keine mag? Sie sind überall.
Vor langer Zeit habe ich mir mal erklären lassen, dass man nach elf Jahren Leben, Arbeiten und Wohnen in Berlin mehr oder minder als Berliner zählt. Also natürlich kein richtig nativer Berliner, der als Baby in Mariendorf oder Marzahn im Kinderwagen von seinen Eltern durch die Gegend geschubst wurde, aber wenigstens ein bisschen. In Berlin, das weiß man, ist die Fluktuation der dort Lebenden massiv. Die Ein- und Auswanderungsquote ist prozentual höher als in anderen Städten und daher braucht es anscheinend irgendeinen Maßstab, an dem man sich festhalten kann, denn in Bezirken wie Mitte oder Prenzlauer Berg, das weiß man auch, sind die Allerwenigsten gebürtige Berliner. Also wann wird wer Berliner und wann wer nicht? Keine leichte Frage. Reicht es, dass das Autokennzeichen der Westimportkarre von Mami ein B vorne stehen hat? Aber nein, der Berliner fährt kein Auto, hat oft nicht mal einen Führerschein. Reicht es hin und wieder „Jurke“ oder „Juten Tach“ oder „Hab ick och!“ zu sagen? Nope. Das ist wie mit der Kunst – erst in der Imitation kommen die größten Missverständnisse und Unfähigkeiten des Interpreten zutage. Besser die Finger davon lassen. Die zahlreichen Engländer, Amerikaner und Kanadier in der Stadt reden ja auch Englisch. Wieso sollte der Bayer hier nicht bayrisch reden, der Schwabe nicht schwäbisch? Aber der Süddeutsche schämt sich traditionsgemäß seltsamerweise in der Hauptstadt für seine Sprachfehler. Mit den in Berlin lebenden Österreichern habe ich solche Erfahrungen nicht gemacht.
Ich lebe seit Anfang der 2000er in der Stadt. Dürfte mich also seit einigen Jahren – vorausgesetzt die eingangs erwähnte Formel t x 11 = 1/1 B besitzt Gültigkeit – als Berliner wähnen. Seltsamerweise aber wird mir die Stadt mit dem nie versiegenden Hype, der andauernden Internationalisierung und Gentrifizierung in den letzten Jahren immer fremder, obwohl sie doch nun endgültig zu meinem polychromatischen Heimatverständnis dazugehören müsste. Wieso dem so ist, zeigte ein kürzlich vom abscheulichen Springer-Ableger Welt veröffentlichtes Interview mit der Kunstbuch-Verlegerin und Bonvivante Angelika Taschen, die vor zwölf Jahren (also mittlerweile Fast-Echt-Berlinerin) hierhin zog und nun dem vermeintlich distinguierten, stilvollen, unterdessen aber kacklangweiligen human being oberlehrerhaft, quasi verängstigend faschistoid erklärt, was Berlin eigentlich ist und vor allem wie man Berlin ist: Dass man keine Sonnenbrille im Haar trägt, außer man heißt Rolf Eden. Dass Batik-Seide von Jakub Polanka ein sicheres conversation piece ist. Dass der wehleidige Schwarzweiß-Loser-Streifen „Oh Boy“ der beste Film über Berlin aller Zeiten sei (echt jetzt?). Und dass man als „Wechseljuicer und Flexitarier“ seine Ottolenghi-Gewürze Sumach und Zatar beim Araber in der Potsdamer Straße neben Murkudis kauft. Mich würde ja interessieren, ob der besagte Araber je was von Ottolenghi gehört hat. Aber das ist innerhalb der ignorant-bigott-versnobten Haltung von Frau Taschen eventuell auch egal. Problematisch an Berlin sei – und das meint die gute Dame offenbar ernst, dass das Sunrise Yoga erst um neun beginnt. In L.A. hätte man um die Zeit schon zwei Meetings, Yoga, Matcha Latte, Mandelmilch-Smoothies und einen Halbmarathon hinter sich. Dieses faule, packige Berlin aber auch.
Das was Frau Taschen im Grill-Size-Soho-Gallery-Popup-Kanon runter dekliniert, ist das sogenannte „neue Berlin“. Superfood und Elitenbildung. Daluma und geinstagramte Dauerangeberei, engagierte Mütter, denen selbst Filippa K fürs Kind zu „cheap“ ist. Man könnte das auch Bildung einer Parallelgesellschaft nennen, die aufs Geld scheißt, weil genug davon da ist. Allerdings war man auf deren Absenz zuvor in der Hauptstadt jahrzehntelang besonders stolz gewesen. Denn Berlin war accessible wie keine andere Großstadt. Jeder konnte machen was und vor allem wie er wollte und wenn er sechs Sonnenbrillen im Haar trug, dann erst recht. Es gab keine Clubhäuser, keine Gated Communities (wie mittlerweile am Volkspark Friedrichshain) und keine Carlofts für die Reichen in Kreuzberg oder Mitte, weil die ohnehin nach Zehlendorf oder Dahlem gegangen sind. Das war ein großes Talent dieser Stadt. Als Anfang des Jahrhunderts unter der Woche in verranzten Kneipen in der Torstraße oder in improvisierten Club-Locations Leute wie Ben Becker, nebst Erlend Øye, Blixa Bargeld, Immo-Bonze, Brad Pitt, Künstler, Galerist und Weiß-der-Geier-wer mit armseligen Studenten und anderen Lebenskünstlern gemeinsam die Hirnzellen weggeschnapst haben. Aufstieg ist Nebensache. Fallen muss man gemeinsam können. So was verbindet. Das ist Berlin. Heute hat man den Eindruck, in der Stadt gibt es nur noch den Anderen: der Tourist, der Ex-Pat, der Flüchtling, der U1-Drogendealer, der böse Gentrifizierer aus Hamburg, der Antänzer, der besorgte Prenzlberger, der Nicht-ins-Berghain-Kommer, der Schweighöfer. Ein neidvoller Skeptizismus ist anstelle der Inklusion getreten, die hier zuvor noch selbstverständlich praktiziertes Savoir-vivre gewesen ist. Berlin wollte sich immer mit Paris, London und New York messen und übernimmt dabei offenbar auch die geht so tollen Seiten. Absurde Mieten, gestresst schlechte Stimmung, überteuerte Moden wie 60 Euro teure Duftkerzen, Hype-Sucht, globalisierter Me-Too-Mumpitz und wahnwitziger Gastro-Bullshit wie das von den Fashion-Bloggern Carl Jakob Haupt und David Kurt Karl Roth betriebene Dandy Diner, das vor allem eines nicht kann: gutes Essen.
Dem Berliner wird gerne zugesprochen, dass er besonders gut im Nörgeln ist. Aber auch, dass er gelassen mit Dingen umgeht. Nicht den Club um die Ecke zwei Wochen nach Einzug wegklagt. Dass man selber Hand anlegt, wenn es was zu tun gibt und nicht gleich die Bullen anruft. Vielleicht sollte Frau Taschen ihren Araber neben Murkudis mal fragen, was er denn so mit Sumach und Zatar kocht. Und nicht zuletzt sollten sich alle fragen, wieso sie in diese Stadt gezogen sind. An den üppig-tollen Gehältern bei Zalando kann es nicht liegen. Und Yoga und Chiasamen kann man auch in Stuttgart haben. Dort gibt es sogar einen funktionierenden Flughafen.